COPE
Wut. Eine Vignette
von Andreea Zelinka

Ich bin aufgewachsen in den tobenden Landschaften brodelnder Vulkane. Meine Heimat ist die Trauer meiner Ahn:innen und der Zorn des patriarchalen Egos. In mir werden sie zu reißenden Flüssen der Wut, die aus heißen, nie versiegenden Quellen meines Innersten entspringen. Schade, diese hemmungslose Freude wütenden Rauschens.

Ich bin eine weiße Frau mit deutschem Pass, ich werde ohne Migrationshintergrund gelesen. This is not another white man lament, and this is not white people's vulnerability. Ich bin eine Frau mit Privilegien, weil ich weiß bin und meine fleißigen Migra-Eltern dafür gesorgt haben, dass ich studierte. Ich bin in Rumänien geboren, in Süddeutschland aufgewachsen und lebe seit einem Jahrzehnt in Wien. Meine Perspektive ist europäisch. Und doch frage ich mich, warum heute alle nach Humanismus schreien, als ob er die Antwort auf die Krisen unserer Zeit hätte. Humanismus war doch immer schon androzentrisch, der Mensch ist Mann, der Mann als Mittelpunkt der Welt, Leonardo da Vinci und der vitruvianische Mensch. Hat nicht Sophokles die Antigone damit begonnen: »Vieles ist ungeheuer. Aber nichts ist ungeheurer als der Mensch«? Wer nach Humanismus schreit, will die bestehenden Verhältnisse nicht überwinden, sondern erhalten.

Ich bin ein wütender Mensch. Ich bin wütend auf das Patriarchat. Ich bin wütend auf Kolonialherren und ihre Nachkommen, die noch heute Verbrechen an der Menschlichkeit verüben. Doch Wut ist verpönt, also bin ich verpönt. Wer wütend sein darf und wer nicht, ist kulturell und sozial streng geregelt; und auch die Gründe für Wut werden genau unter die Lupe genommen. Als Frau steht es mir erst gar nicht zu, wütend zu sein. Ich gelte dann als emotional (äh ja, Wut ist eine Emotion, herzlichen Glückwunsch), unkontrolliert, und ehe ich mich versehe, wird mir die Zurechnungsfähigkeit abgesprochen. Schnell geht so was, sehr schnell, speziell in Kontexten ländlicher Zurückhaltung und bürgerlicher Konfliktscheu. Ich bin es übrigens leid, meine Wut herunterzuschlucken. Ich bin es leid, die Rolle der Vermittlerin und verständnisvollen Friedensförderin zu spielen. Meine Wut ist gut. Sie ist berechtigt, und ihr steht es zu, sich zu entfalten. Meine Wut bricht mit dem Status quo und reißt in der Auseinandersetzung mit dem, was sich vermeintlich nicht ändern lässt, alles mit sich.

Fuck you all, white cis-males. I hate you. Ich kann es schon hören: Da hat wer weißer Mann gesagt, heult wer, weil er nicht auf seine Identität klarkommt, die verschleiert als Norm gilt. Weil er nicht das kriegt, was er gerade will. Und manchmal kriegt man halt nicht, was man will, und unterlässt es trotzdem, danach zu greifen. Do not fucking grab my pussy, you fucking shithead idiot. I will grab your balls, and you will cry, and I will laugh at you. This is not a question of standards, this is a question of redemption. Checkt ihr? Jetzt in alle Sprachen übersetzen. Kein Bock auf das Gejammere weißer Männer. Sieh ein, dass du Fehler gemacht hast, und fang an, an dir zu arbeiten. Du kannst diese Fehler verlernen. Wir sind alle nicht doof, wenn wir es zulassen.
(Neo-)Kolonialismus, Imperialismus, Faschismus – der weiße Mann und seine ach so tollen Gesellschaftsideen. Der weiße Mann, wie er dorthin marschierte, Menschen tötete, unterwarf, ankettete und schlug, misshandelte, ihre Kinder verstieß, und weiße Frauen, die ihn dabei unterstützten. Wir haben die Menschen, die wir unterwarfen, angepasst an unsere kapitalistischen Wünsche und Ansprüche, und sie haben beschlossen, der Tod ist mehr wert als dieses Leben. Revolutionen. Unabhängigkeiten. Aber an Rückzug wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg gedacht? Was alles passieren muss, dass endlich. Aber eh nicht deswegen, sondern weil es sich der weiße Mann halt einfach nicht mehr hat leisten können, so war es doch. Es reicht halt. Es reicht.

Damit es auch der weiße Mann in der letzten Reihe noch mitbekommt: Weiß bezieht sich nicht auf die Pigmentierung der Haut, sondern ist eine politische Kategorie, die durch hegemoniale Macht, also Privilegien, Dominanz und Anspruchsdenken entsteht. In allen Weltregionen gibt es sie, die weißen Menschen, die Klasse der Ausbeuter*innen und Unterdrücker*innen, der Kompliz*innen mit dem Kapital und dem Wohlstand für wenige. Wie oft wurde ich schon gefragt: Bin auch ich ein weißer Mann? Wenn du mich so fragst, dann ja. Es stimmt, es kann sein, dass ein Mann an einem Ort weiß ist und an einem anderen Ort marginalisiert. Identität ist fließend, nicht festgelegt. Aber wenn du das Bedürfnis hast, mich wiederholt danach zu fragen, ob du ein weißer Mann bist oder nicht, dann wird es höchstwahrscheinlich Zeit for some serious thinking.
Koloniale Gewalt hört nicht einfach auf. Wir hinterlassen etwas beim Verlassen der einst kolonialisierten Länder. Wir hinterlassen Schmerz und Trauma, Unsicherheit und Verwirrung und gleichzeitig beuten wir sie weiter aus und halten sie klein – und wenn es ihnen gut geht, bombardieren wir sie. Und auch in uns bleiben die Trümmer zurück, auch wir bleiben vor unserer eigenen Gewalt nicht verschont. Wir müssen mit dem brechen, was uns zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit trieb. Ich habe auf einer App gelesen: Whiteness always wants to center comfort, not the uncomfortable truth. Wir machen es uns leicht. Was bedeutet Dekolonialisierung? Wie dekolonialisiere ich mein Denken und Handeln als weißer Mensch? Der anti-koloniale Kampf ist gleichermaßen nach außen und nach innen gerichtet. Beides ist unübersichtlich und messy. Außen wie innen sind die Verhältnisse nicht immer klar, Motive verdeckt, Hintergründe unsichtbar, müssen Koalitionen eingegangen werden, die wie Widersprüche klingen, aber das Überleben sichern. Doch bleiben es Kämpfe um Befreiung und Solidarität. Wir müssen aufdecken, was uns verborgen bleibt.

Dekolonialisierung erfordert von uns weißen Menschen Reflexion, die Bereitschaft, sich schmerzhaften Eingeständnissen zu stellen, sich vom eigenen Überlegenheitskomplex zu lösen, die Vormachtstellung in dieser Welt unter den Menschen und im Verhältnis zu nicht-menschlichen Lebewesen abzugeben. Wir hängen alle mit drin, ungeachtet unseres Geschlechts und unserer spezifischen Geschichten. Wir alle reproduzieren dieses kapitalistische, menschenverachtende und zerstörerische System mit unserem unreflektierten Denken und Handeln und unserem Unwillen, das, was wir gelernt haben, zu verlernen. Es liegt an uns, diese Verhältnisse innen wie außen zu ändern. Get organized. Revolution ist Prozess und Ereignis.

normalitäten 3*1:

ein politiker sagt im deutschen fernsehen verbrechen macht uns wach also schmerz und leid und tod zerstörung machen uns wach was hält uns wach? was hält uns wach? was hält uns wach, wenn wir die wunden heilen?

Ich frage mich: Was kommt nach der Wut? Wie breche ich aus diesem Kreislauf von Wut und Trauer und Wut und Trauer aus? Wie heilen wir die Wunden, ohne zu vergessen, was sie verursacht hat? Ein Erfordernis ist wehrhaftes Denken und wehrhaftes Handeln gegen die eigenen Konditionierungen. Widerstand gegen den eigenen Körper und Geist als Produkte der Kolonialisierung. Es gibt keine Revolution ohne Gewalt. Es gibt keine Revolution ohne Erkenntnis, Schmerz, Ohnmacht und Wiedergeburt. Solidarität mit den Marginalisierten bedeutet, sich selbst aus der eigenen Komfortzone herauszureißen, diesen Schmerz, der immer geringer sein wird als jener, den wir den anderen angetan haben, auszuhalten, sich dem reißenden Strom der Veränderungswut hinzugeben, um dort anzukommen, wo das Brodeln zu Ruhe und Klarheit wird, weil ein gutes Leben für alle möglich ist.

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1Normalitäten, Frauen*Forscherin WS 20/21, Frauen*referat der ÖH Uni Wien, S. 28f.


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Andreea Zelinka

ist Lyrikerin, arbeitet im Roten Antiquariat in Wien und ist Redakteurin bei der feministischen Zeitschrift frauen*solidarität. Ihre Kolumne vom suchen und finden über Bücher und Begebenheiten im Antiquariat erscheint monatlich auf www.unsere-zeitung.at. Im Podcast anarchie&cello liest sie revolutionäre Texte, um die anarchistische und historische Arbeiter:innenbewegung hörbar zu machen.


Andreea Zelinka

ist Lyrikerin, arbeitet im Roten Antiquariat in Wien und ist Redakteurin bei der feministischen Zeitschrift frauen*solidarität. Ihre Kolumne vom suchen und finden über Bücher und Begebenheiten im Antiquariat erscheint monatlich auf www.unsere-zeitung.at. Im Podcast anarchie&cello liest sie revolutionäre Texte, um die anarchistische und historische Arbeiter:innenbewegung hörbar zu machen.