COPE
offener Dreiklang der Wut in Zeiten der anhaltenden Verwüstung / open triangle of fe:_*_:_*_male rage in times of total fuckery
von Hannah Schlüter

I. (Baby-)Boomer jeder Altersgruppe

Ein interaktiver Mitmachtext & eine lose Verzerrung von eigenen und fremden Gedanken sowie Musikstücken zur Thematik der sich erwärmenden Erde und der Gefühle, die das bei unterschiedlichen Personengruppen verursacht.

Wer hat den Keks aus der Dose geklaut? Der Boomer war’s.
Wer hat den Weg aus der Krise verbaut? Der Boomer war’s.
Wer hat dem Wald beim Brennen zugeschaut? Der Boomer war’s.
Das Kapital war’s. Capital Bra war’s nicht.
Endlich mal eindeutig identifizierbare Schuldige.

Arbeitsauftrag: Streiche im Folgenden alle Sätze durch, die ein Boomer sagen würde. (Bedenke dabei, dass ein Boomer nicht unbedingt zwischen 1955 und 1965 geboren sein muss. Höre während der Lektüre »Girl on Fire« von Alicia Keys oder, wenn du dich kulturell distinguieren willst, »Easy Babe« von Magic Island.)

Alle nicht gestrichenen Sätze kannst du behalten.

Also:

Trag doch nicht das ganze Leid der Welt auf deinen Schultern / Der Drops ist noch nicht gelutscht / Die meisten wollen leben und das ist gut / Hast du den Knall noch nicht gehört / Du bist Staub / Alles ist egal / Nichts ist egal / So weit kommt’s noch / Wenn es dir egal ist, bist du schon tot / Die moralischen Allüren der Besserwisser / Die sollen erst mal lernen, was Arbeit bedeutet / You only live schwanz / Nein, ihr bereut nichts / Ihr habt den Knall noch nicht gehört / Was wir jetzt schmelzen werden sie ausbaden / Da wird man ja wohl noch hinfliegen dürfen / Es gibt keinen Grund aufgebracht zu sein / Woher kommt nur diese Wut / Messer Gabel Schere Licht sind für kleine Kinder nicht / Kein Respekt für die Lebensleistungen

Lass das die Profis machen / Lasst uns Bäume anzünden / Lasst uns nach unten treten / Lasst die alten Männer von ihren Posten zurücktreten / Es ist kein Klimawandel in den Köpfen / Das Drama der Eltern / Von einem der auszog zu lernen sich in die Tasche zu lügen / Niemand ist schuld alle sind schuld / Wohl dem Menschen / Wenn er gelernt hat / zu ertragen was er nicht ändern kann / und preiszugeben mit Würde / was er nicht retten kann

ich werde euch nicht ins dunkel folgen / das ei ist noch nicht gepellt / der drops ist noch nicht gelutscht / der frühe vogel hätte den wurm gefangen / es ist fünf nach zwölf / es ist noch nicht aller tage abend / she’s just a girl and she’s on fire / genau wie die erde / feeling the catastrophe but she can’t fly away / she can’t / i know you never meant climate change / no one ever did / grant me the serenity to accept the things i cannot change / courage to change the things i can / and wisdom to know the difference / gib mir die dickste haut

der wind trägt uns nicht mehr / die affen rasen durch den wald / der eine macht den andern kalt / die dinosaurier werden immer trauriger / nein sorg dich nicht um mich / du weißt ich liebe das leben / sag lieber nichts sei lieber still / die stimmung war doch eben noch so gut / dieser pessimismus / das macht doch allen schlechte laune / wir wollen auch mal schöne geschichten hören

sonnencreme nur noch fünfzig plus / wie die sorglosigkeit / mit après-ski in die apokalypse / entspannt in die endzeit / die neuen jahreszeiten / mild und sanft und herzerwärmend / frühling sommer herbst und herbst

gehen sie weiter / machen sie ihre heizungen aus / und erfrieren sie / es gibt keinen grund zur hoffnung / das wäre zu viel arbeit / so schnell geht das nicht

natürlich kannst du klein-emil ins offene messer rennen lassen / das ist deine ureigene entscheidung / klein-emil wird es gut gehen / er muss nur gut sein im zuschauen / zuschauen und aushalten / züchte ihm die dickste haut / lass ihn hart werden für das kommende / jeder ist für sich selbst verantwortlich / seines ureigenen glückes schmied

II: ich schmiede dir ein schloss aus sand / das der markt regelt / denn unter der spitze des eisbergs lauert der strand / komm reiß auch du ein paar steine aus dem vaterland / dänischer wein ist wie das blut der erde / komm schenk uns ein / die dinosaurier werden immer trauriger / denn karl der käfer wurde nicht gefragt / hört ihr die regenwälder husten / wie sie sich winden / und dann verschwinden / auf nimmer nimmer wiedersehen :II

?1,2

II. Entropische Kritik der patriarchalen Thermodynamik

Twitterumfrage: Zu wie viel Prozent ist das Patriarchat an der derzeitigen Situation der Welt schuld?

Bestimmt nicht 100 Prozent, es sind nie 100, nie ist etwas der 100-prozentige Grund für irgendetwas, das haben wir gelernt, die Letztbegründungen taugen nichts, überhaupt nichts, sie taugen nur zur Begründung des Bestehenden, das sich seiner Grundlage beraubt.

Viertes Gesetz der Thermodynamik: Der Klimawandel gleicht die soziale Kälte des Neoliberalismus aus. Planetarisch betrachtet: eine verspätete, misslungene Erwärmung der Herzen.

Vielleicht hasst der Neoliberalismus aber auch einfach seine Mutter.

Der Homo oeconomicus hasst seine Mutter, ganz bestimmt.
Er lag nie auf einer Couch und hat darüber gesprochen, wie es ihn anekelt: ihre Bedürftigkeit, ihre Schwäche, ihre Liebe. Wie sie heult, wie sie gejammert hat, als er gegangen ist.

Sie hat schweigend seine Wäsche gewaschen und gewartet, dass er sich bedankt. Als sie nicht mehr da war, lagen Berge an ungewaschener Wäsche in seiner Wohnung, sie türmte sich zu einem mahnenden Haufen.

Der Homo oeconomicus ist damit beschäftigt, der vernünftige Mensch der Aufklärung zu sein. Er sitzt wie Descartes vor seinem Kamin und fragt sich, ob er überhaupt existiert. Sehr vernünftig. Er will oder er muss seine Mutter vergessen. Er muss vergessen, wer um ihn herum war und durch wen er geworden ist, oder er will es vergessen, zumindest für einen kurzen Moment – um die Welt besser zu verstehen. Sehr vernünftig.

Vielleicht hätte ihn diese Frage, diese Skepsis über die eigene Existenz, nicht umtreiben können, wenn er damit beschäftigt gewesen wäre, sein Mittagessen zu kochen.

Oder richtiger: Vielleicht wären ihm beim Kochen für oder mit ANDEREN andere Erkenntnisse gekommen. Aber jetzt ist er nicht ohne sie und kann sie trotzdem nicht mitdenken.

Um einen Begriff von sich zu bekommen, muss er sich trennen. Um Subjekt zu werden, muss er reduzieren und reduziert seine Vernunft als abgetrennte. Er spaltet sich, um ein Abgetrennter zu werden von allem Lähmenden, Erdrückenden.

Was gut wäre: zu jedem gedanklichen Schritt ein körperlicher.

Kein Mensch ist eine Insel.
Jeder Mensch ist eine Insel, umgeben von einem Meer voll anderer Inseln, die durch Brücken verbunden sind oder durch Schiffe oder durch Flugzeuge oder durch Gedanken.

Die Abtrennung vollzieht sich in der Arbeitsteilung. Die Vielseitigen werden einseitig und einsam, denn sie haben sich nur der Anteile ihrer Vernunft bemächtigt, die sie zu Instrumenten machen. Er macht seine Mutter zu seinem Werkzeug, um selbst Werkzeug sein zu können im sich steigernden Produktionsprozess.
Was sollte er tun? Selber waschen? Eine Putzkraft anstellen? Sich eine andere Frau suchen, mit der er über die herumliegende Wäsche streiten könnte?

Wenn die Frauen gehen, wird es kalt auf der Welt. Wenn sie übersehen werden, wird es warm. Dabei geht es gar nicht um die Frauen, sondern um alle, die da waren, die Geniestreiche des Fortschritts zu ermöglichen.

Der nächste Zyklus der Aneignung ist nur einen Eisprung entfernt.

Das Genie nähren, das Genie aufbauen, das Genie trösten. Dasein, ohne da zu sein.

1.000 Watt.
Es kostet 1.000 Watt, aus der Deckung zu kommen.
Weitere 1.000 Watt, den Respekt zu verlieren vor dem Kanon der Altvorderen.
Ein Atomkraftwerk, sich nicht zu schämen, sich nicht schuldig zu fühlen, kein schlechtes Gewissen zu haben.

Wo er nichts bereuen musste, sollte sie sich schämen. Sich das Patriarchat abtrainieren?

2.000 Jahre, mindestens.
Unbeholfenes Wanken.
Die Silhouetten verändern sich.
Überflüssige Arbeiten an der eigenen Dekorativität einstellen. Überflüssige Sorgearbeit unerledigt lassen.
Notwendige Sorgearbeiten benennen.
Ab und zu: nicht nachfragen, niemanden abholen.
Abwarten, wer sich kümmert.
Um die Gruppe, um die Wärme.

1.000 Watt, sich als Zweck zu sehen. Mit Mitteln oder ohne. Nicht funktionieren. Keine Nummer sein. Unterscheiden zwischen begehren und begehrt werden.

Wenn die Abseitigen beginnen zu sprechen, geht es um Räume, die fehlen, um Grenzen, die überschritten, um Willen, die gebrochen werden, bis sie sich nicht mehr an sich selbst erinnern.
Traumatisierte kreisen um sich selbst, bis ihr Trauma bearbeitet ist. Die Sprache des Traumas ist nicht.

Selbsterfüllende Prophezeiungen. Was war zuerst da?
Angebot oder Nachfrage. Die stummen Oberflächen oder der Befehl, stumm zu werden.

Die Haut darf so dünn sein, wie sie sein will.

Wer seinen Körper besitzt, kann aus ihm heraustreten, um sich zu fragen, wohin der Weltgeist strebt.
Ihr wart euch immer selbstverständlich. Wer abseitig ist, ist unerheblich.

Wer die längste Zeit versorgte, muss kleben bleiben am Konkreten.
Aber: Das hingegebene Leben gibt sich nicht länger hin.

Ardet nec consumitur. Enzyklika corpus meum. Quod erat demonstrandum: Fickt euch. Wie ihr die längste Zeit gefickt habt.

Die Rationalität der Maschinenbauer baut keine Kläranlagen. Die Irrationalität der Fotzen petzt.

Und immer wieder die Stimme in deinem Kopf: Du bist banal. Was du sagst, was du willst: banal. Ultrahocherhitzt.
Nur der kühle Kopf soll sprechen.

Kühl mir den hitzigen Kopf, kühl mir die hitzigen Oberflächen.

Du hast die Maschine wieder angeworfen, du willst noch höher als vorher.

Nicht Maschine sein –

such dir ein Zimmer für dich allein und lern, es zu beleben. Blätter dich. Blätter dich heraus. Kratz den Klebstoff von deinen Worten, kratz dich aus dem Alltag und frag dich. Frag dich alles. Frag dich, wer mit dir wann in deinem Zimmer sein soll.
Gib ein paar Volt an den Boden ab.
Kratz die Kruste der Scham von jeder Wunde und wirf sie in den Wind. Schau dir an, wo die Haut gerissen ist, wie sie gerissen ist, wie es kam, wozu es kam. Es ist erheblich, wo was wieso reißt.

Wende den alten Blick ab, blinzel sooft du willst. Die Kriterien, die gut sind, hat es noch nie gegeben.
Verlier den Respekt, verlier den Respekt vor jedem. Wenn dir jemand sagt, es geht nicht anders, geht es anders.
Schütte die Fußstapfen auf mit Wut, und wirf Wüstensand in die Getriebe.
Gegen die Härte ist vieles erlaubt. So respektlos wie nötig das Alte zurücktreten lassen. Nichts vergessen, niemanden vergessen im Überwinden. Es muss nichts verschwinden, es kann alles noch verwendet werden. Es braucht einen neuen Platz.

Wer hilft dir, auf ihre Kriterien zu scheißen?

Deine Mutter, vielleicht.

Wer zertrümmert mit dir den Kanon?

Deine Mutter, bedingt.

Wer erhitzt dich?

Gebrannt, aber nicht zerstört.

Es geht immer anders.

Nichts mehr wissen, nichts besser wissen als das. Als dass. Es anders geht. Sachzwang. Weniger Politik geht nicht, mehr Politik geht nicht.

Quod libido erit …

III. so tun als ob

einen moment lang könnten wir so tun
als wäre tina3 gestorben
als hätte margret4 eine gesellschaft
gekannt
(aber margret kannte nur tina)

wer jetzt noch cool ist
verkrieche sich für immer
und genüge sich selbst

in bester gesellschaft
verflixt und zugerichtet
gibt es keine alternative
zur überwindung
der überwundenen zukünfte
was no future
gewesen war

deine depression ist ein relikt
der 2000er
wut ist
die neue depression
halts maul oder
erzähl mir
was dich
wütend macht

gewöhn dir deine
arroganz ab
bis du siehst
dass du
so anders
wie alle
bist
völlig gleich

diesmal
so weich wie noch nie
diesmal
als fragen ohne antwort
außer
alles anders
als bisher

nichts neues
es ist alles
da

es ist alles
schon

ordne es neu
uen
neu
une

wenn es noch nicht
stimmt
dann tun wir so
als ob

alle uhren
auf
hören

aufhören auf anfang hören fang auf den anfang an zu hören

__________________________________
(hier könnte deine Wut stehen)


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1 Chemie-Schule.de sagt: »In der Physik ist der Wärmetod die Annäherung eines abgeschlossenen Systems an das thermische Gleichgewicht.« Wikipedia sagt, »gemäß des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik enthält ein abgeschlossenes System im thermischen Gleichgewicht ein höchstmögliches Maß an Entropie. Entropie wird umgangssprachlich häufig dadurch umschrieben, dass sie ein ›Maß für Unordnung‹ sei. Allerdings ist Unordnung kein wohldefinierter physikalischer Begriff und hat daher auch kein physikalisches Maß. Richtiger ist es, die Entropie als ein objektives Maß für die Menge an Information zu begreifen, die benötigt würde, um von einem beobachtbaren Makrozustand auf den gerade vorliegenden Mikrozustand des Systems schließen zu können. Dies ist gemeint, wenn die Entropie auch als ›Maß für die Unkenntnis der Zustände aller einzelnen Teilchen‹ umschrieben wird.«
2 Credits to: Alicia Keys, Lonzo, Vicky Leandros, Gänsehaut, Udo Jürgens, Death Cab For Cutie, die katholische Kirche, Friedrich Schiller, wahrscheinlich: Reinhold Niebuhr. Kinderlieder: »Wer hat den Keks aus der Dose geklaut?«, »Hörst du die Regenwürmer husten?«, »Die Affen rasen durch den Wald«
3 TINA = neoliberaler Ausspruch: »There is no alternative«
4 Margret Thatcher


*
Hannah Schlüter

vermeidet Zoom, hat Angst um den Agave-Senf-Aufstrich und dass alle aus Jena wegziehen. Sie liest gern Wikipedia und schreibt oft, manchmal Artikel, Drehbuch und Mobiles, wenn sie im ICE-Ruheabteil ist. Sie ist froh, der universitären Gesellschaftstheorie Praxis folgen zu lassen und denkt viel über den Klimawandel, Trauma, das gute Leben, Freundinnenschaft und das Geschlechterverhältnis nach. Sie hat dieses Jahr begonnen, wieder Auto und erstmals Floß zu fahren. Ihren Messerblock sieht sie als deutliches Symbol dafür, dass Dinge sich mit der Zeit ändern und besser werden können. Wenn sie es nicht schafft, mit Schreiben und Filmen Geld zu verdienen, wird sie zur Zugbegleiterin oder Erlebnispädagogin umschulen. Ihr keltisches Baumsternzeichen ist die Pappel. Sie ist Co-Gründerin und Mitherausgeberin von COPE.

@hanfred3000



Hannah Schlüter

vermeidet Zoom, hat Angst um den Agave-Senf-Aufstrich und dass alle aus Jena wegziehen. Sie liest gern Wikipedia und schreibt oft, manchmal Artikel, Drehbuch und Mobiles, wenn sie im ICE-Ruheabteil ist. Sie ist froh, der universitären Gesellschaftstheorie Praxis folgen zu lassen und denkt viel über den Klimawandel, Trauma, das gute Leben, Freundinnenschaft und das Geschlechterverhältnis nach. Sie hat dieses Jahr begonnen, wieder Auto und erstmals Floß zu fahren. Ihren Messerblock sieht sie als deutliches Symbol dafür, dass Dinge sich mit der Zeit ändern und besser werden können. Wenn sie es nicht schafft, mit Schreiben und Filmen Geld zu verdienen, wird sie zur Zugbegleiterin oder Erlebnispädagogin umschulen. Ihr keltisches Baumsternzeichen ist die Pappel. Sie ist Co-Gründerin und Mitherausgeberin von COPE.

@hanfred3000