COPE
Voicemail
von Irina Nekrasov_a

Voicemail 1:
Ich hab doch diesen Kalender, so einen, in den du alles reinschreibst, den ganzen Mist, wie viel du geschlafen hast, wie viel Wasser du getrunken hast, ob du Menschen gesehen hast, alles Mögliche. Das ist kein Selbstoptimierungsding, oder ich mein, das kommt drauf an, wie Leute es nutzen. Jedenfalls habe ich das Ding geliebt, und heute bin ich aufgewacht und hab es gesehen und war so abgestoßen, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich lieg jetzt seit Stunden neben diesem Kalender und streiche die Achtsamkeitssprüche durch und schreib Kapitalistenschwein! an den Rand. Ich hab überlegt, ihn aus dem Fenster zu werfen, ich hab überlegt, ihn anzukokeln. Das Ding hat Glück, ich bin zu schwach, um irgendwas damit zu machen.

Voicemail 2:
Ich musste an dich denken dabei, weil du doch immer sagst, die Leute können dich mal, die sagen, Mal deine Krankheit weg. Oder Tanz oder was auch immer. Ich hab dir da auch immer zugestimmt, aber das war so mein Ding, sich dran festzuhalten, weißt du. Ich hab mich an allem festgehalten, was sie mir vorgeschlagen haben, Listen, Spaziergänge, Meditieren, Traumreisen, Schlaf im Blick behalten, nicht zu viel schlafen, weil es alles schlimmer macht, nicht ganz zu wenig schlafen, weil es dann anders alles schlimmer macht. Der ganze Scheiß halt.

Voicemail 3:
Weißt du, ich hab gerade gemerkt, dass ich noch meinen Vibrator in der Hose hab. Ohne Witz. Der lag da rum, weil ich vor ein paar Stunden gedacht hab, vielleicht würde das helfen. Ich hab sogar meine Lieblingssexszene auf Netflix dafür angemacht. Hat nichts gebracht, und danach hab ich halt versucht einzuschlafen. Ich hab nicht mal richtig gemerkt, dass er da noch liegt. Ich mein, es fühlt sich jetzt anders an, seit er weg ist, besser, aber das ist, was ich meine. Ich fühle mich elend, so elend, überall, und ich würde nicht mal merken, wenn unter meinem Rücken eine Reißzwecke liegen würde, die es schlimmer macht.

Voicemail 4:
Dieser Kalender hat Glück, dass ich kein Feuerzeug im Bett hab. Hätte ich ein Feuerzeug im Bett, hätte ich schon lange Kette geraucht. Aber ich schaff’s nicht mal, pissen zu gehen seit circa drei Stunden. Aber das ist eh nicht schlimm, weil ich seit einer Weile nichts getrunken hab. Eigentlich seit gestern Mittag.

Voicemail 5:
Ich höre einen Chor im Hintergrund singen, den Chor meiner Vorfahren, der macht die Hintergrundmusik, und die Lyrics sagen, Wer so viel Zeit hat, der liegt halt rum. Wäre heute einer dieser Tage, an denen ich mich so fühle, wie ich mich heute fühle, und ich wäre draußen bei einem Job, dann würde ich mich genauso fühlen, es alle 20 Minuten kurz vergessen, dann tollpatschig werden, mich am Arm stoßen, und anstatt zu checken, dass ich mich ja nur am Arm gestoßen hab, nichts weiter, würde ich Angst bekommen und Hass bekommen und Schwäche bekommen und Schwindel und das Gefühl, dass meine Organe sich nicht richtig heben, alles wäre genauso, nur schlimmer.

Voicemail 6:
An Atemübungen glaub ich immer noch, weil meine Brust sich anfühlt, als wäre sie eingequetscht, und tief einatmen fühlt sich an, als würde ich das Quetschen verhindern und meine Organe retten, aber das Problem ist, dass ich gar nicht so viel Kraft hab, um die ganzen Organe auseinanderzuziehen und die Brust zu heben und alles. Deswegen schaffe ich es nicht, öfter tief durchzuatmen, eher so einmal alle zwei Stunden.

Voicemail 7:
Ich find es sowieso ziemlich beeindruckend, wie leicht und wie schwer dasselbe Körperteil sein kann, ich mein, ich fühle meine Brustdecke, ich fühle meine Brüste, ich fühle meine Lunge, meine Nippel, meine Schultern, und die wiegen viel mehr als sonst. Irgendwer hat das mal beklemmend genannt oder Beklommenheit oder Beklemmtheit.

Voicemail 8:
Wenn ich jetzt meine Arbeit nicht abgesagt hätte, hätte ich gearbeitet und dabei Ziegel auf dem Brustkorb gehabt. Aber eben unsichtbare, und das ist auch der Grund, wieso ein Mensch, der sogar von Leuten mit Abschlüssen bestätigt bekommt, dass es die Ziegelsteine gibt und dass die Ziegelsteine was damit zu tun haben, wieso das Glas Wasser, das nur zehn Zentimeter zu weit weg steht, um direkt danach zu greifen, zu weit weg steht, und dass es was damit zu tun hat, welche Tagträume man hat und welche Nachtträume und wieso Aufwachen genauso angsteinflößend ist wie Einschlafen, jedenfalls, sogar dieser Mensch muss nochmal kurz erwähnen, dass ein paar Kinder und ein paar Hobbys und vierzig Stunden arbeiten gehen die Steine nicht wegmachen.


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Irina Nekrasov_a

ist geboren in Tscheljabinsk, lebt und schreibt in Leipzig. Teil der Autor_innenkollektive pms (postmigrantische störung) und passing problems. Themen: how to smash den normalzustand.

@irina.nekrasov.a



Irina Nekrasov_a

ist geboren in Tscheljabinsk, lebt und schreibt in Leipzig. Teil der Autor_innenkollektive pms (postmigrantische störung) und passing problems. Themen: how to smash den normalzustand.

@irina.nekrasov.a