COPE
Let me see you stripped
von Jonah Lara

Ich sitze im Konferenzraum und warte die letzten Augenblicke vor dem vereinbarten Termin ab. In circa vier Minuten werde ich ein Interview führen. Vor mir ausgebreitet liegen der Zettel, auf dem meine Fragen stehen, mein stumpfer Bleistift, mein Smartphone mit der geöffneten Sprachaufzeichnungs-App und das verlagseigene Festnetztelefon.

Ich bin nicht sonderlich aufgeregt. Nicht mehr als sonst zumindest. Das Telefon klingelt, dran ist ein Promoter, und er gibt das Telefon weiter an meinen Interviewpartner. Das Übliche. »Hey, how you doin’?« Ihm geht’s gut. Und mir? »Me too, thank you for asking.« Ob wir noch irgendetwas klären müssen, bevor wir anfangen? Nein. Ob es Themen gibt, auf die er gerade keinen Bock hat oder so? Auch nein. Alles beim Alten.

Auch der Rest: Wie schon so oft gehört. Neuorientierung durch Umzug, das bisher persönlichste Album, viele neue Einflüsse. Kuriosum: Im neuen Haus wurde eine Plattensammlung zurückgelassen. Ach, wie schön. Satie darunter, gerne gehört. Ließe sich alles prima so drucken. Das Album sei wie eine Therapie gewesen, sagt mein Interviewpartner dann. Ach ja? Ja, daher habe es dieses Forschende, dieses Ungewisse und das Nach-vorne-Strebende. Er hätte oft gar nicht gewusst, was als Nächstes aus ihm rauskommen würde. Moment mal kurz. Das kenne ich doch. Und das sage ich auch: »That’s an experience I made with therapy as well. You need to stay open and wait for things to come to the surface, right? It’s really hard to stay in that kind of mindset because you’re kind of exposed to yourself.« Energische Zustimmung.

Der Rest des Gesprächs ist super. Nicht Interview-super, sondern wirklich super. Auf dem Weg zurück in mein Büro fragen mich meine Kolleg*innen, die wissen, dass ich gerade ein Interview hatte, wie es war. »Toll«, sag ich. »So richtig emotional. Toll.« Dann setze ich mich in mein Büro und weiß nicht mehr, was ich machen soll.

Ich google meinen Interviewpartner und schaue ein paar Minuten einfach auf die Collage aus Gesichtern, die da in den Suchergebnissen zu sehen ist. Er sieht nicht so übel aus, wie man denken sollte, bei dem, was er da gerade so erzählt hat – aber auch nicht glücklich. Sind die Bilder gestellt? Ich komme mit diesem einen schwarz-weißen Bild nicht klar, dem mit dem gesenkten, innigen Poetenblick.

»This was really meaningful to me, thank you«, hat mein Interviewpartner am Ende des Gesprächs zu mir gesagt, und das war es auch für mich. Dieses Gespräch hat mir viel bedeutet, und meine Aufgabe ist nun, es druckbar zu machen. Es verwertbar, lesbar, unterhaltsam, informativ, peppig, sensationell, spannend, schockierend, berührend, dramatisch, zum Superknüller zu machen. Und das ginge auch prächtig: Ein Freund meines Interviewpartners wurde Opfer eines Auftragsmordes, den dessen Partnerin in Auftrag gegeben hat. Mein Interviewpartner war damals 18 oder 19 und Mitglied einer Band, die später, nach seinem Weggang, Platinalben aufgenommen hat – »before they became what they ended up becoming«. Das schreibt sich von selbst.

Oder eben nicht. Ich will das nicht einfach so runterschreiben. Denn das, was er erzählt hat, hat mich berührt. Es hat mich traurig gemacht, trauriger noch als die Lieder, die er davon singt. Trauriger noch als der Text, den er über seinen toten Freund geschrieben hat. »We wait for you to rest«, singt er über ihn heute. Ich habe ihn gefragt, ob er den Text vielleicht auch an sich selbst gerichtet hat. Darauf folgte eine lange Pause. »You know, I never really thought about it that way.« Ein bisschen wie bei der Therapie, denke ich hinterher. Wieder muss ich an seine Worte denken: »This was really meaningful to me, thank you.« Und an meine: »Thank you, it meant a lot to me as well.«

Gerne hätte ich ihm gesagt, dass ich 21 war, als meine Mutter gestorben ist. Dass sie insgesamt vier Mal Krebs hatte, seit ich zwölf war. Und noch viel mehr: Wie auch meine Therapie mich immer wieder mit bisher Unbekanntem konfrontiert hat, und wie viel ich dabei über mich gelernt habe. Was ich alles vergessen oder verdrängt habe, und was bei mir an die Oberfläche kommt, wenn ich darüber rede.

Gerne wäre ich im Nachhinein nicht so unnahbar gewesen, gerne hätte ich ihm etwas Ähnliches anvertraut. Warum also habe ich das nicht gemacht? Weil wir eben kein normales Gespräch geführt haben, sondern ein Interview. Auf 30 Minuten getaktet, der nächste Termin für ihn direkt im Anschluss, mein Tag ähnlich durchorganisiert. Ich hatte anderes zu tun, und er auch. Was genau hat es also mit diesem Gespräch auf sich, was war das? Ich habe nach etwas gefragt, das in seinem Promotext stand – einem Text, der vorgefertigt war, damit ich ihm eine Frage stelle und er mir antwortet, wie er auch anderen antworten wird. Was wird da nutzbar gemacht, geformt, weitergetragen? Ist das eine authentische Erfahrung, wenn ich sie gefühlt habe, obwohl sie forciert wurde?

Eine richtige Antwort darauf habe ich nicht. Ich habe auch keine Antwort auf die Frage, ob mein Text jetzt ein besserer wäre, wenn ich meine eigene Perspektive eingebracht hätte. Vermutlich wäre er nur ein anderer: Statt eines fokussierten Künstlerporträts wäre er eine Mischung aus Reportage, Kolumne und Porträt. Die für mich jetzt, Monate später, spannendere Frage ist jedoch die: Was für einen Text hätte ich geschrieben? Aufgrund der Coronapandemie musste die Band die angedachte Tour absagen, die der Anlass für mein Interview gewesen ist. Dadurch ist mir die Gretchenfrage erspart geblieben, was für einen Text ich schreiben sollte. Aber kann ich mich so aus der Verantwortung ziehen?

Irgendwie ja nicht, denn als Kulturjournalist bin ich schließlich immer befangen, und das ist ja das, was wir zumeist als großes Gut hochhalten: die Wertung, der persönliche Blick. Wie gut kann ein Text denn sein, wenn er das emotionale Potenzial des*der Schreibenden komplett ignoriert? Wie gut kann er sein, wenn es eine*n überhaupt nicht tangiert, worüber man schreibt? Was im täglichen Grind bei mir allerdings hintenüberfällt, ist das Bewusstsein dafür, was ich wo und wie von mir abgebe und nach außen kommuniziere. Was ich letztlich von mir verkaufe – und wie ich den*die jeweils andere*n dann davon ausgehend verkaufe.

Die Musik, die ich täglich höre, bedeutet mir etwas, und es bedeutet mir etwas, für Geld über sie schreiben zu dürfen. Allerdings ist genau dieser Wunsch, in dem Bereich arbeiten zu dürfen, den ich so liebe, auch zu einem nicht unbedeutenden Teil dafür verantwortlich, dass ich mich mit einem kleinen Lohn abfinde. Dass ich kurze Deadlines in Kauf nehme und damit klarkomme, dass die Texte meist kürzer und oberflächlicher sind, als ich es gern hätte, solange das Thema, das mir am Herzen liegt, überhaupt irgendwo vorkommt.

Und warum bedeutet mir dieser Job so viel? Eigentlich ja nur, weil die Musik, die ich höre, mich berührt, was im besten Falle zu Gesprächssituationen wie dem bisher ungedruckten Interview führt. Ob das für die Musiker*innen ähnlich ist? Nehmen sie diese Interviews in Kauf, damit sie weiter von ihrer Musik mehr oder minder schlecht leben können? Lassen sie ihre persönlichen Traumata zu Promo verarbeiten, damit sie weiterhin berührende Lieder über diese Traumata schreiben können?

Ich sitze jetzt seit einer halben Stunde – und nach mehreren Korrekturschleifen – vor meinem Laptop und versuche, meine Frustration zu verstehen. Versuche, die Widersprüche aufzudröseln. Es gibt da diese Sehnsucht nach dem Menschen hinter der Kunst. Eine Sehnsucht, die zum Teil dafür verantwortlich ist, dass ich meinen Job mache, und die mein Job befriedigen soll.

Was ist aber, wenn der Mensch hinter der Kunst nicht ein Mensch ist, sondern viele? Wenn hinter dem Lied für mich jetzt, nach dem Gespräch, nicht mehr nur einer, sondern viele stehen, ich eingeschlossen? Promoter*innen, Journalist*innen, A&R, Labelchef*innen, Bandmitglieder – eine ewige Verkettung von Interessen monetärer, sozialer und parasozialer Natur. Ich gehe auf YouTube, um das Lied zu hören, das diese Kette angestoßen hat. Eine andere Gretchenfrage als die, welchen Text ich schreibe: Ist das Gefühl noch da? Ist es noch dasselbe?


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Jonah Lara

lebt in Hamburg und ist wider seine guten Vorsätze und die Ratschläge seiner Eltern doch Musikjournalist geworden.

@30i8739 / @zptlk



Jonah Lara (*1992)

lebt in Hamburg und ist wider seine guten Vorsätze und die Ratschläge seiner Eltern doch Musikjournalist geworden.

@30i8739 / @zptlk