COPE
Freier Fall
von Kaśka Bryla

Viktoria sagt immer.

Ich. Ich brauche, Ich muss, Ich will.
Sofort, dringend, auf der Stelle.

Gebe ich ihr, was sie will, schmiegt sie sich an mich, massiert mir den Rücken, streichelt mir durchs Haar. Vertröste ich sie auf später, morgen, verweise auf meine Müdigkeit, dass ich andere Dinge erledigen müsse, wird sie wütend. Ihr Gesichtsausdruck ist kaum auszuhalten. Zerrissen und böse zeichnet sich tiefe Verzweiflung darin ab.

Wenn sie in der Nacht nicht schlafen kann, schüttelt sie mich, bis ich aufwache.

Eigentlich ginge es mir besser, ohne dich.
Aber sie lacht nur.

Ja? Das will ich sehen. Versuchen wir es?

Wie es wohl wäre ohne sie?

Langweilig.

Als wäre das ganz normal, meine Gedanken zu lesen.

Dreh uns jetzt lieber eine Kippe.

Ich drehe und rauche und drehe und rauche noch eine.
Was, wenn ich die Kippen wegließe?
Sie zuckt mit den Achseln und hat vor nichts Angst.

Wenn ich ins Badezimmer komme und sie in der Wanne liegen sehe, tauche ich sie manchmal unter. Ganz schaffe ich es nie. Der Moment der Erniedrigung, sobald ich loslasse, sie auftaucht, das Grinsen im Gesicht. Ich lasse viel Zeit verstreichen, bevor ich es wieder mache.
Weil angenommen, ich wäre erfolgreich. So stolz. Die bist du los. Jetzt bist du frei.
Wann wird mir eine andere begegnen, mit den gleichen Augen, und alles beginnt von vorne. So stelle ich es mir vor. Es gibt kein Entrinnen.

Geh, hol uns den Rotwein und die gute Schokolade.
Ich brauche etwas Süßes.
Warum sitzen wir hier herum?
Lass uns ausgehen. Ich möchte tanzen.
Du bist alt und langweilig.
Geh nicht dort entlang.
Halte dich an das, was du kennst.
Halte dich an mich.
Nein, das ist nichts für dich.
Ich kenne dich.
Komm, wir rauchen noch eine.
Wir trinken noch einen.
Wir essen noch mehr.
Hab keine Sorge.
Sollte uns das Leben zu viel werden,
werfen wir uns vor den Zug.

Vorsichtig lächelt sie.

Warum vor den Zug?
Das ist total asi.
Sie antwortet nicht, reagiert nicht auf mich, hört mir überhaupt nicht zu, sagt ohne Vorwarnung:

Ich will sofort einen veganen Burger!

Wütend lege ich meine Arbeit beiseite. Bis der Burger vor ihr steht, spricht sie nicht, und erst nach ein paar Bissen, die sie runterschlingt, als hätte sie eine Ahnung von Hunger, versichert sie wie beiläufig:

Auch, wenn du alles andere verlierst.
Ich bleibe.
Mich kannst du nicht verlieren.

Fast wie eine Drohung. Letztlich beruhigt es mich.

Alles wird gut,
solange du tust,
was ich sage.
Renn weiter, ich bin immer direkt hinter dir.

Wenn es still ist, weil Viktoria nichts zu sagen hat, fliegen Bilder durch meinen Kopf.

Ich in der Badewanne, die Pulsadern offen.
Ich mit meinem Kopf auf den Bahngleisen. Das Geräusch eines herannahenden Zuges.
Ich kurz vor dem Sprung von einer Autobahnbrücke.
Ich, sitzend im Wald bei minus 20 Grad.

Hör auf, meine Gedanken zu lesen!, schreie ich und halte meinen Kopf. Schulterzuckend blättert sie weiter in einem Frauen-Mode-Magazin. Weil sie vor nichts Angst hat und doch alles braucht.

Fabian hat mir letztens etwas erzählt, beginne ich.

Welcher Fabian.

Auf einmal sehr wachsam.
Das spielt keine Rolle.

Wohl. Alles, was nicht ich bin, spielt eine Rolle.

Fasziniert setze ich mich ihr gegenüber. Betrachte die weichen Lachfalten um die Augen und den Mund, den straffen Hals und die sehnigen Oberarme und Beine. Fahre mit meinem Blick ihre Taille entlang, runter bis zum Knie und an der Innenseite hoch, erinnere mich an Feuchtigkeit. Nichts in mir drängt, sie anzufassen, aber alles in mir schlägt für sie, und ich denke: Das ist es.
Eine Kopfnuss trifft mich hart.

Viktoria steht neben mir und lacht. Lacht und lacht. Hört nicht mehr auf zu lachen.

Wahrscheinlich wird nichts leichter, gestehe ich mir eines Tages ein und möchte Eiscreme zum Frühstück, ein Stück Kuchen als Draufschlag, dazu drei Espressi und später Pizza Quattro Formaggi.

Was ist mit der Liebe? Ich möchte die Liebe!
Aber sie wedelt nur mit dem Zeigefinger

Entweder, oder.

Fis. Die Tasten des Klaviers unter meinen Fingern. Mozart.

Weil sie dich zu Chopin gezwungen haben.
Alles, was du tust,
tust du in Ablehnung zu
oder in Anbiederung an.
Erbärmlich.

Erbärmlich, wiederhole ich. Sie hat recht. Ich weiß überhaupt nicht, wer ich bin. Aber Viktoria kennt mich.

Friedlich drücke ich ihr ein Messer in die Hand und bitte:
Komm. Mach einfach zwei Schlitze. Damit sie rausbrechen können.

Du spinnst ja!,

kreischt sie und lässt das Messer einfach fallen. Ich halte es kaum noch aus, derart stark reiben die Schulterblätter gegen meine Haut, die nur noch so dünn ist wie Bibelpapier. Tränen stehen in den Augen.
Die Flügel, winsele ich. Sie möchten raus!

Was denn für Flügel?,

fragt sie verächtlich. Ein wenig Besorgnis schwingt auch mit. Das ist gut.
Dann kratz mich wenigstens, bitte ich.
Das Jucken ist unerträglich!
Was sie auch tut, aber davon brechen die Flügel nicht raus.

Für ein bis zwei Tage in der Woche verschwindet sie. Nie weiß ich genau, wann. Sobald sie weg ist, klappe ich den Laptop auf und erledige einige der Aufträge, die sich in meiner Mailbox angestaut haben. Schließlich muss die Miete bezahlt werden, Essen in den Kühlschrank. Dann noch die Liste an Konsumprodukten, die Viktoria bei Laune halten. Sie behauptet zwar, es sei unnötig, dass ich arbeite, dass es sinnvoller wäre, ich konzentrierte mich nur auf sie. Ihr Standpunkt: Lohnarbeit ist überflüssig und spießig, wo es doch ein Amt gibt, und ohnehin die Möglichkeit zu stehlen.
Für mich nicht.
Selbst geht sie auch nicht zum Amt. Stehlen, darin ist sie richtig gut. Manchmal komme ich mit und sehe zu, wie sie den einen Arm hebt, mit der freien Hand Kaffeebohnen, Schokolade und Milch beinahe gleichzeitig im Rucksack verschwinden lässt. Der Rucksack lässig an der Seite des gehobenen Arms baumelnd, wie zufällig, kein bisschen gewollt.
Dieses unschuldige Kindgesicht.

Faktisch kann sie nicht alles stehlen. Gerade bei Elektronikzeug mit eingebautem GPS wird es kompliziert. Wir müssten den GPS-Chip gleich nach dem Diebstahl ausbauen, und das schaffen nicht einmal die erfahrensten Autodiebe aus Polen.

Freiwillig arbeite ich ein paar Stunden länger in die Nächte hinein, in denen sie durchschläft, und kaufe ihr das neuste iPhone mit der dazugehörigen Bouncerhülle, obwohl sie die durchaus stehlen könnte, aber so bin ich: großzügig.

Freudig lege ich die Geschenke unter das Kopfkissen und bringe das Frühstück ans Bett. Sie schafft es, 64 GB Speichervolumen in einem Tag vollzuladen, danach liegt das iPhone XS traurig im Wohnzimmer, immer auf lautlos gestellt.

Fremd stehe ich eines Morgens vor ihr und schlage ihr ins Gesicht. Richtig fest. Meine Backe brennt.
Frustriert hält sie die andere Wange hin.

Und? Möchtest du noch mal?

Ich zögere, zögere richtig lange, aber dann schlage ich zu. Verdutzt fasse ich mir ins Gesicht. Wie eine Löwin wirft sie den Kopf in den Nacken.
Aua, sage ich.

Violett ist die schönste Farbe,

behauptet Viktoria und setzt sich neben mich auf die Couch.
Warum?, frage ich. Warum die schönste?
Von vornherein verwendet sie Superlative, um aus etwas Trivialem eine Wahrheit zu erschaffen.

Weil es so ist.

Es ist aber nicht so! Für mich ist Blau die schönste Farbe.
Vorsichtig lacht sie. Ich verstehe nicht, weshalb sie lacht. Warum sollte dein schönstes Violett schöner sein als mein schönstes Blau?

Ernsthaft?,

sagt sie schließlich, und ich nicke, woraufhin sie aufsteht, in die Küche oder ins Bad geht, mit einem vollen Glas Wasser zurückkommt und es mir über den Kopf leert. Ich springe auf. Ganz ruhig steht sie vor mir.

Blau ist keine warme Farbe,
Violett ist die schönste Farbe.

Ich möchte, dass es endet.

Unmöglich.
So läuft das nicht.
Wir gehen bis zum Schluss.
Wir lassen nichts aus.
Gestorben wird, wenn die Zeit reif ist
oder wenn Gott es so will.

Gott?, frage ich hoffnungsvoll.

Seit einer Woche habe ich mich in der Wohnung verbarrikadiert und faste. Viktoria ist bei mir geblieben. Ich trinke viel Wasser und mache Einläufe, damit ich mich nicht vergifte. Nach einer Woche ist mein Darm schön leer. Ich stöhne vor Leere.

Viktoria lässt sich jeden Abend Pizza oder Pommes über einen Seilzug in die Wohnung reichen. Sie gibt mir nichts ab, sieht mir belustigt zu.
Das nennt sich Selbstdisziplin,
erkläre ich, beuge mich ganz nah
zu dem duftenden Pizzakäse.
Wasser rinnt im Mund zusammen.
Das nennt sich Selbstdisziplin,
wiederhole ich stolz.

Warum, frage ich, warum verletzt du mich?
Derartiges habe ich noch nie gefragt. Wo die Frage gestellt ist, wundere ich mich, warum mir noch nie in den Sinn kam, eben das zu fragen. Viktoria legt das angeknabberte Stück Pizza in den Karton und sieht beschämt zu Boden. Ich warte und kann es nicht glauben. Auch Stunden später noch keine Antwort.

Verführerisch zieht sie ihre langen, schlanken Beine von der Couch.

Ich gehe eine Runde spazieren.

Steht auf, räumt meine mühsam errichteten Barrikaden vor der Wohnungstür beiseite, wie man Krümel vom Tisch fegt, und verlässt die Wohnung.
Etwas stimmt nicht, denke ich. Etwas ist ganz falsch. Aber der Moment, in dem ich noch hätte eingreifen können, ist vorbeigezogen.

Faserig sitze ich auf der Couch und starre und sitze und starre. Vielleicht bilde ich mir das nur ein.
Vielleicht halluziniere ich vor Hunger.
In Wirklichkeit weiß ich um die Wahrheit. Ich denke, dass alle immer um die Wahrheit wissen, sonst würde nie jemand verrückt werden.

Jahrelang begegne ich ihr in Schaufenstern auf Einkaufsstraßen. Mein Blick ist immer eine Sekunde zu spät. Sobald ich mich umgedreht habe, ist sie verschwunden.

Seit der Fastenzeit bin ich sehr dünn geworden und nach Viktorias Verschwinden geblieben. Nichts, was ich esse, übt irgendeinen Reiz auf mich aus, egal wie viele unterschiedliche Gewürze ich beimische. Alles ist schal.

Oft ertappe ich mich dabei, dass ich mir vorstelle, wie es wäre, wenn sie jetzt zurückkäme. Dass es an meiner Wohnungstür klopft und ich aufmache. Sie sieht genauso aus wie damals, als sie mich mit nichts als Pizzaresten auf der Couch zurückließ.

Ob sie eintreten dürfe, ob ich sie einlade.

Dass sie stets willkommen sei.
Obwohl du mich nicht mehr interessierst.
Da lacht sie ihr mir vertrautes Lachen.
Aber sie kommt ja nicht zurück.


*
Kaśka Bryla

ist in Wien geboren, zwischen Wien und Warschau aufgewachsen. Studium der Volkswirtschaft in Wien, Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, wo sie 2015 die Literaturzeitschrift und das Autor_innennetzwerk ps – politisch schreiben mitbegründete. Sie war Redakteurin des Monatsmagazins an.schläge in Wien, erhielt 2013 das österreichische STARTStipendium, 2018 den Exil Preis für Prosa. Von 2016 bis 2020 gibt sie Kurse zu Kreativem Schreiben im Gefängnis und für Menschen mit Migrationshintergrund. 2019 inszenierte sie in Leipzig an der Schaubühne Lindenfels die Reihe szenogramme, in der sie Texte von Theaterautor*innen und Autor*innenkollektiven mit Migrationshintergrund auf die Bühne brachte und im Austausch mit Publikum, Autor*innen und Ensemble nachbesprach. Ihr vielseitig besprochenes Romandebüt roter affe ist 2020 im Residenz Verlag erschienen.

www.kaskabryla.com
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Kaśka Bryla

ist in Wien geboren, zwischen Wien und Warschau aufgewachsen. Studium der Volkswirtschaft in Wien, Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, wo sie 2015 die Literaturzeitschrift und das Autor_innennetzwerk ps – politisch schreiben mitbegründete. Sie war Redakteurin des Monatsmagazins an.schläge in Wien, erhielt 2013 das österreichische STARTStipendium, 2018 den Exil Preis für Prosa. Von 2016 bis 2020 gibt sie Kurse zu Kreativem Schreiben im Gefängnis und für Menschen mit Migrationshintergrund. 2019 inszenierte sie in Leipzig an der Schaubühne Lindenfels die Reihe szenogramme, in der sie Texte von Theaterautor*innen und Autor*innenkollektiven mit Migrationshintergrund auf die Bühne brachte und im Austausch mit Publikum, Autor*innen und Ensemble nachbesprach. Ihr vielseitig besprochenes Romandebüt roter affe ist 2020 im Residenz Verlag erschienen.

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