COPE
Ein Ei ist ein weißer Raum
von Leona Stahlmann
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In dieser Nacht jedoch hatte sie die Wesen, die in dem Mietshaus schliefen, nicht nur beim Bedienen der Toilettenspülung, sondern beim Atmen gehört. Sie erwiesen sich als klopfende Pulse eines gewaltigen Organismus. Beim allgemeinen Klingeln der Wecker waren sie jedoch in fremde, förmliche, einander sogar feindliche Einzelstücke zersprungen.
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– brigitte kronauer


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The center will not hold.
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– joan didion

Bevor ich das Ei vom Balkon werfe, halte ich es in die Sonne. Es ist weiß wie ein Hühnerei, nur kleiner und leichter, im Gegenlicht durchziehen Äderchen das Innere: ein feines Gespinst, das von der Schale in die Mitte wächst und ein mögliches Leben in die Eimitte pumpt, bis ein definitives Leben daraus geworden ist und das Ei leise knackt und sich ein erster Haarriss zieht und das Definitive die Schale sprengt, in der es ja überhaupt erst möglich geworden ist, überall Schalenscherben und Eidotterreste dann, das Leben macht eine Sauerei, vom Anfang bis zum Ende eine ziemlich gewaltige Sauerei, und an Anfängen und Enden saut das Leben ganz besonders.

Vor der Balkonbrüstung knacken die Oberleitungen der Tram, leuchten im Nachmittagslicht auf wie die Äderchen im Ei, dünne Leitungen, die eine Mitte, die Mitte dieser Stadt, mit Leben versorgen, am Morgen die Menschen in die Büros und Geschäfte pumpen und am Abend wieder heraus in die Peripherien, die Menschen krabbeln nass und verklebt aus den Trams am Abend und sammeln sich gegenseitig die Reste der Eierschalen vom Schädel, kratzen sich den Dotter aus den Knopflöchern der Anzüge, die Eiklarspritzer sind an den Rändern ihrer Münder zu weißen Krusten getrocknet, manch einer streut sie am Abendbrottisch übers Omelett, es müssen ja alle satt werden davon, auch die Kinder, besonders die Kinder!

Alles geht von der Mitte aus, ohne Mitte keine Peripherien, ohne Mitte keine Räume, und das ist es ja, was wir den ganzen Tag so tun, was wir an allen Tagen tun, bis uns die Tage ausgehen und wir nicht weitergehen, wir bewegen uns durch Räume, durch sozialen Raum und Gedankenräume, zum Beispiel, durch Agenturen und Abfertigungshallen, zum Beispiel, wobei das eigentlich dasselbe ist, durch Wohnzimmer, durch Sterbezimmer, durch Schulflure und Wartebereiche und Endstationen. Ein Raum, das ist eine beliebig irgendwo aufgestellte Mitte, um die vier Wände stehen, ein Boden drunter, und meistens ist ein Dach darüber. Ein Ei ist ein Raum, ein Ei ist ein weißer Raum, das Taubenei, das ich von der Brüstung des Balkons meiner Wohnung in Hamburg schmeiße, ist ein störender Raum, ein Raum, dessen Mitte in der Mitte meines Balkons liegt und mich so ganz aus meiner inneren Mitte wirft, und das in meinen eigenen vier Wänden.

Ein Mutterbauch ist ein Raum, und eigentlich fängt die ganze menschliche Misere erst an, wenn wir aus diesem Raum herausgedrückt werden, der genau unserer Körperform entspricht, genau richtig körperwarm ist, und nicht mal Miete kostet er, so was kriegst du später nie wieder, willkommen im Leben, umsonst ist hier nichts, die Mietpreissteigerung hört auch an der Grube nicht auf, macht Halt vor nichts, sprengt Deckel wie die Sorte Eischalenpolitik, die sie sind, sehen hübsch aus und ebenmäßig und sehr schön weiß, und irgendwann knackt es naturgemäß und bricht dann.

Sobald wir also raus sind aus dem Mieterparadies Uterus, hat der menschliche Körper ein Problem, ein Platzproblem. Er braucht nämlich welchen, er braucht Platz, also: Raum, und diesen Raum bekommt er nicht einfach so, er muss ihn sich, sobald er die Gebärmutter unseligerweise verlassen hat, erkämpfen, er muss ihn bezahlen, mit Geld und mit seinem Leben, das er für Geld verkaufen wird, damit sein Körper, in dem ja dieses, sein Leben stattfindet, sich nach dem täglichen Verkaufen dieses Körpers inklusive Kopf inklusive Hirn irgendwo aufhalten, auf einem Sofa zusammensacken kann, damit er das Endgerät fürs Netflix-Abo an einem sicheren, trockenen Platz aufstellen kann, wenn er später auf dem Sofa zusammensackt. Man kann diesen Raum auch leider nicht unendlich verkleinern wie das meiste andere, das der Mensch so braucht, die Akkus elektronischer Geräte und Lebensperspektiven auf dem Planeten Erde lassen sich ja auf ein Minimum zusammenschnurren, wie wir inzwischen wissen, nur der Raum, den wir brauchen, den kann man zwar stark verkleinern, bloß hört die Verkleinerung da auf, wo unser Körper anfängt, so ist es leider, trotz all unserer Versuche, uns klein zu machen, trotz Faszientraining und BMI und grünen Smoothies und Marie Kondo und dieser skandinavischen Methode, vor dem Tod, also möglichst vor dem Sterben, noch all seine Sachen zusammenzufegen, den Kram zu entsorgen, das Lebensgeklunker, die raumgreifenden Kinkerlitzchen einer Existenz, die, seien wir ehrlich, ab 60 doch auch eher stört als nützt, das Gesundheitssystem, die Sitzplätze in der Bahn etc., etc., wird doch auch Zeit, die Plätze mal zu räumen, und hier, Kollege, in der Sofaritze liegt noch was, da haste was vergessen, nicht dass der Hund vom Nachmieter das frisst, das wäre ein bisschen ungut, höchst unschön wäre das, ganz ehrlich gesagt, am Ende kriegt das Vieh noch Durchfall davon und dann war’s das mit dem Sichtbetonboden und der Mieterhöhung dann auch, na dankesehr.

Collage von Fynn Steiner: David Bowie und Vogel© Fynn Steiner

Das Taubenei lag neulich einfach in meinem Rosmarinterrakottatopf, nebst eines anderen, eines Geschwistereis, überall Taubenscheiße auf den Teakholzstühlen und ein Flatschen auf dem Teakholztisch, in der Mitte übrigens, das war doch Absicht, das kann mir doch keiner erzählen, da wackelt die innere Mitte mal wieder und weit und breit kein Bierdeckel, den man unterschieben kann, ich detoxe ja, absoluter Bierverzicht zwecks Platzeinsparung meiner Körperfalten, Kondo für den Body quasi, ich behalte nur die Falten, die mich beglücken, gucke also jede Falte einzeln an, Bauchfalten und Arschfalten, does it spark joy, und schon hat man wieder einen Zentimeter eingespart, mehr Platz für Luft drumherum und innendrin. Also Eier und Scheiße auf meinem Balkon, aber keine Tauben in Sicht, nirgends, nur ein Nest in meinem Rosmarin, fett und breit haben die sich gemacht, im Internet steht, ich soll die Eier still entsorgen, gewöhnliche Stadttaubeneier, auf den Drähten der Trambahn vor meinem Balkon sitzen sie und murren, wärmen sich die Krallenzehen an der Leitung, scheißen in den weichen Wind, der um die Häuser meines Viertels fließt, es ist ein nettes Viertel, ein besseres Viertel, ich habe die Wohnung gekauft, sie gehört mir, nein, eigentlich gehört sie der Bank, und ich werde sie in siebeneinhalb Leben nicht abbezahlt haben, aber ich liebe diese Wohnung, ich wohne gern hier, in meinem Großstadtviertel in Altbau mit cremeweißem Stuck an der Decke, an die jetzt kein Mietendeckel mehr reichen kann, in diesem Viertel, in dem der weiße schaumig aussehende Stuck sich auch in den handgetöpferten Tassen findet, in denen mein Lieblingscafé um die Ecke seinen Milchkaffee mit einer derart ausgetüftelten Milchschaumarchitektur versieht, als hätten die Baristas dort alle mindestens ein Diplom in Statik abgeschlossen, tatsächlich war der Besitzer des Cafés vor seinem Burn-out mal Informationsarchitekt, die Verwandtschaft der Fächer erkennt man direkt, erkennt man gleich am Milchschaumstuck in diesen herrlichen Tassen, die seine Frau selbst wirft auf der Drehscheibe im Wohnzimmer ihrer Altbauwohnung, die direkt neben meiner liegt, ich kann ihre Drehscheibe an Sonntagen durch die Wand raspeln hören, ich werde ihr bald eine Tasse abkaufen, Handwerk erdet mich irgendwie.

Ich habe dann meinen Freund N. angerufen, wegen der Eier, er wohnt in meinem Viertel in Gehweite und er kam und besah sich die kleinen leichten Eier in meinem Rosmarintopf aus Terrakotta, er beguckte sie eine Weile, pickte sich eines aus dem Nest und drückte es gegen seine Wange und begann, fast manisch damit an seiner Stirn herumzurubbeln, ich hatte fast Angst, dass er das Ei zerdrückt, ich sagte: N., was machst du da?, und N. setzte für einen Moment das Ei ab und wog es in der Hand und sagte verschwommen, Ich habe heute Morgen ein bisschen Acid genommen, darf ich mich auf dein Bett legen und deinen Stuck ansehen, bitte, das kommt richtig gut auf Acid, oder lass mich mal deine Töpferwaren anfassen, das erdet mich irgendwie, und ich zog N. in die Wohnung und er warf sich auf mein Bett und glotzte versonnen auf den Stuck und brach irgendwann in schallendes, nicht mehr einzudämmendes Gelächter aus, er sah mich an und den Stuck an, er fuhr mit den Fingern die Fugen zwischen den freigelegten Mauersteinen meiner Schlafzimmerwand entlang, er prustete, dass ihm die Spucke in blasigen Placken aus dem Mund sprühte, er sagte mühsam, während ihn die Lachsalven schüttelten, Sag mal, L., sag mal, diese Wohnung hier, er deutete in den Raum und an die Decke und auf den Boden, was hast du da eigentlich gekauft, was zum Teufel hast du dir hier eigentlich andrehen lassen, für vierhunderttausend Euro ein paar Fugen, ein paar Steine, das bisschen Stuck oder was, drei, vier Kabel, Glas und Eisen, für vierhunderttausend Steine, L., und er lachte und lachte und presste sich schließlich heftig die Hände auf die Rippen, weil sie begannen wehzutun vor lauter Lachen, weil der Raum in der Brust ihm eng wurde vor Lachen und Luftnot, das ist ja auch so ein Ding, dass Atmen Platz braucht, ein Unding eigentlich, weil manche freier atmen dürfen als andere, weil sie mehr Raum bekommen, weil sie weiß sind wie Taubeneier, zum Beispiel, weil ihre Gesichter und Bildungshintergründe glatt und ebenmäßig sind wie Eierschalen, zum Beispiel, und ich denke an einen Schwarzen in Amerika, dessen Raum in der Lunge ihm eng gemacht wurde, bis der Atem sich einen anderen Raum suchen musste und er vom Straßenpflaster wich, auf das der Schwarze gedrückt wurde über acht Minuten lang vom Knie eines Weißen, der in diesem Moment die Raumhoheit hatte, und dann starb der Schwarze und verließ den Raum, in dem er nicht hatte sein dürfen, und in dem goldenen Kistenraum, in dem er beerdigt wurde, spiegelte sich das entsetzte Gesicht der Welt, aber sobald Erde drumherum war, spiegelte sich darin nichts mehr, und was immer in der Kiste war, es würde bald gar keinen Raum mehr einnehmen und zu Erde werden und Luft, und der Weiße und seine Knie waren noch immer im freien Raum und atmend ohne Bedrängung des Brustraums und der Herzkammern.

Was N. meinte, war, dass ich nicht den Mörtel gekauft hatte und das Holz des Dielenbodens und die Gummierung der Fenster und Türen. Ich hatte mir Raum gekauft, die Aussparung von fremden Körpern und anderem störenden Großstadtmaterial und damit dem Amüsierstoff der anderen auf meinen 50 Quadratmetern also, es ist wie bei einem Haarschnitt, man bezahlt für das, was nicht mehr da ist, eine Großstadt, das ist ein Kleid aus bebautem Gelände mit einer Spitzenborte aus Beton und Stein, es ist ein Designerstück, es ist begehrt, es ist eigentlich überhaupt nicht tragbar.

Freund N. auf meinem Bett holte tief Atem und sagte, dass er die Luft durch seine Lunge und um seine Eingeweide zirkulieren spüre, sein Atem roch ein wenig nach Döner, den er täglich isst, weil er zwei Euro fünfzig kostet und alle Nährstoffgruppen auf engstem Raum enthalten sein sollen, eingequetscht in einen pappigen Brotschlitz, den man gut transportieren kann, er knispelte weiche Kügelchen davon ab und schnickte sie in den Mittagspausen den Tauben hin, N.s Atem strömte um sein Herz, seinen Magen, seine Nieren, und der Atem der Stadt strömte um die Fassaden der Gebäude, der Hochhäuser und Fertighäuser Typ Flair 152 Re in den Vorstädten, es ist der stechende Zwiebelatem des Geldes, es ist der zwiebelnde Atem der ungerechten Verteilung von Raum zwischen Menschen.

N. lachte sich leer und ging nach Hause, und jetzt nehme ich eines der beiden Eier in die Hand und werfe es beherzt vom Balkon, pitsch, zwischen die Schienen der Trambahn, ich schlafe gut in dieser Nacht, traumlos.

Die Räume der Welt sind uns in diesem Jahr klein geworden, selbst die weißen Räume, nein: selbst die Räume der Weißen. Etwas kommt aus der Luft wie eine Taube und zieht in die Räume vor unseren Mündern und in unsere Lungen ein, besetzt die Städte und in die Dörfer auch, es kommt von einer Fledermaus, nein, von einem nicht vorhandenen Abstand zu einer Fledermaus, es hätte, denke ich, genauso gut eine Stadttaube sein können, das Virus, das einen schönen Namen trägt, der mich an Paul Celan erinnert, weil meine akademische Ausbildung ein Freiraum ist, in dem Mohn und Privilegien gut wachsen können, ist nur vordergründig eine Krankheit, es ist ja eigentlich: ein Raumproblem. Die Räume von Menschen und Tieren sind zu nah aneinandergerückt, es hat ein marktstandbreiter Abstand zwischen ihnen nicht mehr ausgereicht, um einander zur Genüge aus dem Weg zu gehen, der Platz ist uns ausgegangen auf dem Planeten, und es ist uns zum ersten Mal aufgefallen, dass auch eine schwebende Kugel ein Ende hat, und kurze Zeit später ist auch die Atemluft zu Ende, als wir anfangen, unseren Mundschutz aus geblümter Baumwolle und grünem Zellstoff vor unseren Gesichtern vor uns herzutragen, um neuen Raum zu schaffen, in dem das Virus sich bewegen kann, ohne uns zu stören, ein leerer Raum, in dem das Virus sich vielleicht bald langweilen, vielleicht verschwinden, vielleicht sich darin einrichten wird, wenn es klug ist und auf die noch immer steigenden Immobilienpreise achtet, denn Wohnraum in den großen Städten wird auch jetzt noch knapper, und das Virus bekommt ihn mietfrei unter unseren Nasen geschenkt, gut, er ist klamm von unserem Atem und nur wenige Quadratzentimeter groß, aber er ist geschenkt, ist gratis, für umme, da guckt man dem Maskenträger nicht ins Maul, da sagt man hübsch danke und richtet es sich gemütlich ein.

Wenn ich mich in mein Lieblingscafé setze, das nach den Monaten der Isolation in unseren Altbauwohnungen, in denen der Stuck uns allmählich rammdösig gemacht, ja: innerlich zersetzt hat, wieder gerammelt voll ist, ist meine Maske auch für mich wie ein privater Balkonanbau vor Mund und Nase, er fühlt sich im Gedränge der Großstadt nach Luxus an, nach Schöner Wohnen, als hätte man plötzlich ein zusätzliches Zimmer mehr zugeteilt bekommen.

Eine Maske ist auch wie eine Filterblase, die man sehen kann, die endlich einen Körper bekommen hat aus geblümter Baumwolle, nachhaltig natürlich, wir können darin nur noch unseren eigenen Atem riechen und keinen Fremdatem mehr, mein Freund N. verzichtet beim nächsten Döner auf den Knoblauch in seiner Kebabsoße, und vielleicht ist es das, was man beabsichtigt, wenn man ganze Stadtviertel aufkauft in Paris oder London oder New York, Städte, in denen die Innenstädte leer stehen, weil sich nicht einmal die größten Ketten noch die Mieten dort leisten können für Ladengeschäfte, in denen Friseure und Putzpersonal und Klempner in den Stadtmitten arbeiten und am Abend zwei Stunden lang an die Peripherien fahren, um die herum ihre Betten gruppiert sind, in denen wenige Menschen in riesigen Wohnungen sitzen, allein: denn so können sie nur und einzig und allein sich selbst riechen, und ihre Filterblase besteht aus ihrem eigenen Atem, und wie er riecht, spielt keine Rolle, denn es ist ja ihr eigener Atem, dem man selbst kaum anmerkt, ob er zum Gotterbarmen nach Knoblauch stinkt oder nach Geld, das Eigene ist das Erwünschte, egal wie sehr es zum Himmel stinkt.

Das Internet hat mir geraten, das zweite, das letzte Taubenei durch ein falsches Ei aus Marmor zu ersetzen. Die Muttertaube brütet darauf eine Woche oder zwei und fliegt dann fort, enttäuscht, aber endgültig, und das Marmorei macht sich zu Ostern gut als Esstischdekoration.

Als ich ein Kind war, flog meine Mutter mit mir nach Ankara. Am Flughafen standen Menschen ohne Schuhe und mit einer dünnen Gesichtshaut, unter der sich Vogelknochen abzeichneten, und boten auf Teppichen aus Marmor gedrechselte Eier an, lila gefleckt und weiß. Sie verdienten ihr Geld am Flughafen von Ankara, aber sie wohnten nicht in Ankara, sie wohnten in Dörfern rund um Ankara und verkauften Marmoreier an Touristen, die eine Woche in den Marmorhotelfluren und Marmorbadezimmern von Ankara verbringen würden, sie kamen aus den Dörfern, weil das Geld sie zwar nicht in die Stadt ließ, aber sie aus ihren Hütten herausgetrieben hatte vor die Tore dieser Stadt, weil Marmoreier gut zu Marmorhotelbadezimmern passten, und wir flogen mit einer ganzen Tasche voll Marmoreier zurück nach Hause, und 30 Jahre später lege ich das letzte verbliebene Marmorei in den Rosmarin auf meinem Balkon, um nistende Stadttauben zu verscheuchen, die mir meinen teuer bezahlten Raum streitig machen wollen, und um mich herum fliegt alles in die Luft, fliegen Menschen in Großstädten wie Trapezkünstler durch den Himmel über der Stadt und betreiben Luftartistik, weil wir den Boden unter unseren Füßen nicht mehr bezahlen können, und ich halte das letzte Taubenei in der Hand, ich halte es gegen die Abendsonne über meinem Südbalkon und sehe Äderchen und etwas Dunkles in der Mitte des Eis, und das Geländer meines Balkons vibriert, die Tram fährt vorbei und spuckt die Leute auf die Straße und zurück in ihre Wohnungen, und ich sehe an der Tür der Tram ein Foto von einer biegsamen Frau, die in einer goldenen Hängeschlaufe im Rahmen ihres kleinen Wohnzimmerfensters baumelt und Dehnübungen macht, Aerial Yoga nennen sie das und es verbraucht wenig Platz und räumt mit den Körperfalten und Fettüberschüssen auf, und ich sehe, das Foto mit der über der Stadt schwebenden Frau ist eine Anzeige für die Altersvorsorge einer Bank, flexibel und sicher.

Ich wiege das Ei in der Hand wie mein Freund N., der mich vielleicht zum letzten Mal besucht hat; er wird demnächst fortziehen, er kann sich das Viertel nicht mehr leisten, und bald bin ich allein mit einem Ei, ich lege es vorsichtig in meinen Rosmarin und hoffe, hoffe, dass die Taubenmutter zurückkommen wird, ja: dass aus dem Ei dann doch noch eine Taube wird.


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Leona Stahlmann (*1988)

ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Nach ihrem Debüt der defekt (Kein & Aber 2020) arbeitet sie an ihrem zweiten Roman, der 2022 bei dtv erscheint.

www.leonastahlmann.de
@leona__stahl



Leona Stahlmann (*1988)

ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin. Nach ihrem Debüt der defekt (Kein & Aber 2020) arbeitet sie an ihrem zweiten Roman, der 2022 bei dtv erscheint.

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In dieser Nacht jedoch hatte sie die Wesen, die in dem Mietshaus schliefen, nicht nur beim Bedienen der Toilettenspülung, sondern beim Atmen gehört. Sie erwiesen sich als klopfende Pulse eines gewaltigen Organismus. Beim allgemeinen Klingeln der Wecker waren sie jedoch in fremde, förmliche, einander sogar feindliche Einzelstücke zersprungen.

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– brigitte kronauer








































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