COPE
Sorry, I’ve been distracted
von Nefeli Kavouras

Mein Mantel war schon zugeknöpft, als es klingelte. Der Postbote drückte mir einen Umschlag – eindeutig eine Vinyl-Verpackung – in die Hand. Ich gab ihm meine Unterschrift, drehte den Umschlag um, fand keinen Absender, nur den Royal-Mail-Aufkleber, ließ die Platte in der Wohnung und rannte die Treppe hinab. Ich war spät dran und fluchte. Stunden später kehrte ich mit Rotweinlippen zurück, öffnete das Paket und hielt die Schallplatte, zusammen mit folgender Postkarte, in den Händen:


Postkarte von Matth, Rückseite. Text: Hi there, Sorry this is a little late – I've been distracted! Cheers, Matth


Ich musste lachen. Machte ein Foto, schickte es meinem Kollegen Peter und musste wieder lachen. Die Schallplatte hatte ich vor vier Monaten bestellt und dann völlig vergessen. Dass ich mir die Schallplatte bestellt hatte, hatte vor allem mit Neid zu tun. Vor ziemlich genau einem Jahr hatte ich Peter zum Geburtstag eine andere Platte desselben Künstlers geschenkt. Ich musste lange suchen, fast überall war sie vergriffen oder zu teuer, und als ich sie dann bei dem kleinen Bandcamp-Händler fand, schien die Weltordnung wiederhergestellt. Ich wartete. Und wartete. Nach fast fünf Monaten kam die Bestellung für Peter an. Er hatte seine Platte. Und ich wollte auch eine.

Auch nachdem ich, endlich, meine eigene Platte einsortiert hatte, konnte ich die Postkarte nicht weglegen. Sorry, I’ve been »distracted«. Ich mochte die Vorstellung, dass dieser Matth sich von einer anderen Tätigkeit losriss, weil er erschrocken festgestellt hatte, dass da ja noch diese Schallplattenbestellung war. Ich mochte Matths Schrift, ich mochte den Kitsch des Postkartenmotivs. Ich mochte Matth und alles, was sich hinter ihm und dieser Postkarte verstecken konnte. Aus dem Papiermüll holte ich den Umschlag wieder heraus, es lag kein Bestellzettel dabei, es gab keinen Absender, nur einen Stempel mit einem Frosch drauf. Kein Nachname, nur: Matth. Wer war er, warum verschickte er Schallplatten – und warum mit einer solchen Verspätung? Hörte er die Musik, die ich hörte? Wovon war er so lange distracted gewesen? Und was hatte ihn in die Realität zurückgeholt?

Ich merkte schnell, dass ich nicht das Interesse hatte, dem realen Matth zu begegnen. Mich zogen die Geschichten an, die ich um ihn herum konstruieren konnte. Er war kein unbeschriebenes Blatt, sondern eine in Schönschrift kryptisch geschriebene Postkarte, und ich wollte mehr wissen. Ich tat also das, was ich gern tue: mit meinen Freundinnen und Freunden Geschichten weiterspinnen.

Ich erstellte mit Hilfe einer Freundin eine Webseite – www.whoismatth.wordpress.com – und schickte sie an Freundinnen und Freunde, an Kolleginnen und Kollegen und an meine Friseurin.
Ich forderte alle dazu auf, sich durch dieses kleine Rätsel vom Alltag ablenken zu lassen. Ich wollte wissen, wie ihre Version der Geschichte hinter der Postkarte, hinter Matth, aussah.

Die erste Person, die mir schrieb, war Hannah:

Irgendwie muss ich da beim Alter anfangen. Die Handschrift ist so schön altmodisch, da ist »Cheers« fast wieder zu jung. Matth sammelt Dinge. Vielleicht macht ihn das so alt. Er sammelt Postkarten, Schallplatten und sicherlich auch Bücher. Ich frage mich, wie er sie sortiert. Vielleicht hat der ganze Corona-Selbstoptimierungswahn ihn dazu gebracht, seine Sammlung neu zu sortieren. Zu viel Marie Condo und so ... Vielleicht musste er sich auch erst vier Monate von der Schallplatte verabschieden?

Das Bild der Brücke erzählt auch seine eigene Geschichte. Das sieht so melancholisch aus. Irgendwie richtig traurig. Da hilft auch das »Cheers« nicht. Vielleicht sitzt er abends traurig im Pub, nachdem er seine Sammlung betrachtet und sortiert hat, und wünscht sich etwas an der Jukebox und schaut bis spät nachts der Schaumkrone vom Bier beim Verschwinden zu. Oder er trinkt Whiskey. Langsam. Sehr langsam. Da ist das aber auch nicht so schlimm wie bei einem Bier, das schal werden kann, oder einem Kaffee, der kalt wird, mit Milchschaum, der an der Seite an der Tasse festklebt. Ich stelle mir vor, dass er alles richtig langsam macht. Vielleicht auch, weil er so melancholisch ist, und schnelle Bewegungen und Aktionen ihn zu sehr aus der Bahn werfen würden. Wie bei einem Planeten.


Postkarte vvon Matth, Vorderseite. Darauf ist eine Autobrücke im Abendlicht zu sehen.


Ich mochte die Vorstellung von Matth als Planeten. Ich mochte die Vorstellung von Langsamkeit und Pub. Ich fragte mich, welches Bier Matth bevorzugte und wie wohl seine Stimme klang. Ich fragte mich, wie alt er wohl war und was ihn traurig stimmte. Ich fragte mich, ob Matths Alltag eine Traurigkeit durchzog oder ob er eher jemand war, der an Traurigkeit erinnert wurde. Und dann legte ich Matth beiseite, so wie er wohl meine Schallplattenbestellungen beiseitegelegt hatte.

In den Wochen darauf fiel ich in eine Rastlosigkeit und ein Nichtschlafenkönnen und merkte, wie wenig ich am Tag zustande brachte. Die Zeit verging, und ich konnte kaum sagen, womit ich sie füllte. Ich erledigte alles mit einer Langsamkeit, für die ich mich schämte. Ich fühlte mich in permanenter Ablenkung, ohne dass ich sagen konnte, wovon ich mich ablenken wollte. Ich begann viele Bücher zu lesen, die ich meist nicht beendete. Irgendwann hatte ich auch keine Postkarten mehr, die ich als Lesezeichen nutzen konnte, und ich versuchte, mir die Buchseiten zu merken. Das klappte natürlich nicht. Zwischendurch nutzte ich auch Matths Postkarte als Lesezeichen, aber ich fürchtete, sie verlieren zu können, und klebte sie an meine Küchenwand. Ich kochte vor allem Gerichte, die lange im Ofen zu schmoren hatten. Mir gefiel es, neben dem Herd zu sitzen, neben Matths Postkarte, und hinter dem Kochen das Nichtstun zu verstecken. Ich schmeckte ab, salzte nach, erinnerte mich daran, genug Wasser zu trinken, setzte mich wieder, stand auf, schmeckte ab, salzte nach, bis der Abend verging. Die Tage fühlten sich wie eine Vorbereitung auf die Nächte an, und ich wusste, ich ertrug die Nächte nicht besonders gut. Letztlich war es auch mein Nichtschlaf, der mich vom Normalzustand ablenkte.

Die Zeit des Nichtschlafens versuchte ich vor allem nicht mit Grübeln zu füllen. Ich verbrachte Stunden damit, mich vom Grübeln abzuhalten, abzulenken, die Gedanken auf andere Gleise hinzulenken. Ich schaltete das Licht an, den Laptop, ich hörte Musik, hörte Podcasts, schaute aus dem Fenster auf die leere Straße. Da ich unfähig war, mich selbst adäquat für die Nacht auszuschalten, wurde es wichtig, mich wach zu halten, um nicht zu dämmern und in einen Halbzustand zu verfallen.

Am besten konnte ich zwischen fünf und acht Uhr schlafen. Ich war nicht müde am Tag. Ich trank meinen Espresso mit ein bisschen mehr Zucker als sonst und versuchte, meinem Alltag nachzugehen, versuchte, nicht durch meine Langsamkeit aufzufallen.

Eine Freundin schrieb mir unter dem User-Namen Planet Tits:

Matth ist Schotte, 27 Jahre alt und Fotograf. Allerdings arbeitet er nicht als Fotograf, sondern macht Burgersaucen und sammelt und verkauft Schallplatten. Er wohnt in South Queensferry, seine asthmatische Mutter in North Queensferry. Wegen Corona machte er Einkäufe und Erledigungen für sie und verlor viel Zeit auf der Forth Bridge. Die Brücke ist ihm noch nie groß aufgefallen, plötzlich war sie Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. Und wie das so ist, wenn man von Brücken in die Weite schaut, dachte er plötzlich viel über sein Leben nach. Etwa darüber, warum er seinen Träumen ausweicht und lieber Burgersaucen macht und Schallplatten verkauft, als ein großer Fotograf zu werden. Er begann ein Fotoprojekt zur Brücke, zu South Queensferry, North Queensferry, seiner Mutter und sich. Gerade hat er seine erste kleine Ausstellung mit der Serie gehabt. Das mit den Burgersaucen spart er sich jetzt, aber Schallplatten vertickt er manchmal noch gerne. Erstmal arbeitet er jetzt die alten Bestellungen ab, manche warten schon seit vier Monaten.

Ich begann mich Matth erneut zu widmen. Ich hörte die Schallplatte, schaute auf die Postkarte, in mein Postfach – und fand nichts. Natürlich hatte ich damit gerechnet, dass mir mehr Freundinnen und Freunde schreiben würden. Ich hatte gehofft, es würden mehr Menschen mitspielen, und sich vom Alltag ablenken lassen.

P schrieb mir, nachdem er mir anfangs zugesagt hatte, dass er es doch nicht schaffte.
A fühlte sich nicht inspiriert.
M hatte zu sehr mit der nächsten Hausarbeit zu tun.
Und L fühlte sich, um den Kreis zu schließen, selbst zu emotionally distracted.

Ich fragte mich, was ich da eigentlich tat und warum es mir wichtig wurde, eine Geschichte aus dieser Postkarte zu lesen. Ich wollte so sehr, dass diese Postkarte etwas bedeutete.

Nachts las ich manchmal in Es findet dich von Miranda July. Sie hatte, um sich vom Drehbuchschreiben abzulenken, angefangen, Menschen aus den Kleinanzeigen anzuschreiben, um diese zu treffen und zu porträtieren. Sie traf sich mit Schaufensterpuppenlieferanten, mit einem Jungen, der kurz vor seinem Schulabschluss stand, mit einer Leopardenbaby-Händlerin und vielen anderen Menschen, mit denen sie ansonsten wohl nicht in Berührung gekommen wäre. Sie füllte ihre Prokrastination mit einem anderen Projekt, bevor sie endlich ihr Drehbuch vollendete. Sie lernte dadurch Joe kennen, der für ihr Drehbuch noch eine große Rolle spielen sollte. Ihm und seiner Frau hat sie das Buch gewidmet, wie auch den Film.
Sophie Calle fand 1983 auf den Straßen von Paris ein Adressbuch, das einem Pierre P. gehörte. Bevor sie es an den Besitzer zurückschickte, kopierte sie alle Kontakte. Sie hatte vor, sich mit den Menschen aus dem Adressbuch zu treffen, damit diese ihr etwas über Pierre erzählen konnten. Sie sagte den Personen erst nach ihrem Einverständnis, am Projekt teilzuhaben, um wessen Adressbuch es sich handelte. Über das Treffen mit Martine R. notierte Sophie Calle lediglich:

»In einer Bar in Montparnasse. Während wir über Pierre sprechen, sagt sie mir: ›In der Woche nach dem Tod seiner Mutter sind seine Haare grau geworden.‹«1

Pierre P. ist von Sophie Calles Projekt nicht begeistert gewesen. Sie veröffentlichte ihre Porträts nach und nach in der Libération. Nach dem Abschluss des Projekts beschaffte er sich von Sophie Calle ein Nacktfoto, welches die Zeitung abdruckte, mit seiner Klage, dass Sophie Calle zu sehr in sein Privatleben eingedrungen sei.

Womit füllte Matth seine Zeit, wenn er distracted war?
Ich wünschte, ich hätte auch sagen können, von welcher Baustelle ich mich ablenkte. Ich hätte gern den Moment gehabt, etwas aktiv wegzulegen, um mich etwas anderem zu widmen. Stattdessen widmete ich mich mehreren Dingen zugleich, aber nie mit voller Energie, nie mit ganzem Bewusstsein. Peter schrieb:

»Distracted«, also »abgelenkt sein«, heißt ja eigentlich, dass man eine Zeit lang dachte, dass das Erreichen eines bestimmten neuen Zieles wichtiger sei als die Ziele, von denen man bis dahin dachte, dass sie die richtigen seien. Und dass man nach einer gewissen Zeit aber feststellen muss, dass man sich geirrt hat. Und genau das ist es, was Matth mir so sympathisch macht, dass er unumwunden zugibt, sich geirrt zu haben, dass er auf dem Holzweg war ... Und dahinter steht irgendwie eine sehr einnehmende Haltung zur Welt, nämlich: Hin und wieder falschen Zielen zu folgen, ist normal und gehört dazu. It’s allright to be distracted. Was die falschen Ziele konkret waren, ist da schon fast egal, ich mutmaße aber gerne: als Bouquiniste Bücher an der Seine verkaufen (forget about Momox); Plattenlabel mit Künstlern gründen, die nicht touren (forget about Spotify); ein 1:1-Lokal gründen, bei dem immer nur das jeweilige Lieblingsgericht aus der Kindheit des einen Gastes gekocht wird (forget about Lieferando u.ä.), seinen Lottogewinn an eine gemeinnützige Organisation spenden (forget about Rentenfonds) ...

Ich hatte nachts eine neue Strategie, um mich vom Grübeln abzulenken. Ich zog mich an, ich verließ meine Wohnung, ließ aber mein Licht an. Ich ging auf die Straße. Ich mochte mein Viertel vor allem in der Nacht, weil es, anderes als andere Stadtviertel, nachts wirklich zu schlafen schien. Selten sah ich, dass irgendwo ein Licht brannte. Es gab ein mehrstöckiges Haus an der großen Straße, manchmal sah ich, dass darin nachts eine farbige Discokugel leuchtete. Ich sah, wie sich das Licht von rot zu pink zu grün zu blau veränderte. Ich mochte die Vorstellung, dass da jemand wach war und seine eigene kleine Party schmiss. Oder dass jemand nur beim Wechseln von Farben schlafen konnte.

Hätte das Matth auch gefallen?

Bei mir in der Straße gab es ein großes leer stehendes Haus. Es wurde umgebaut, weswegen ein Baugerüst und eine Plane das gesamte Gebäude bedeckten. Wenn das Tor nicht verschlossen war, ging ich ab und an in den Hinterhof, schaute hoch, schaute aufs Gebäude, bevor ich dann, langsam und bedacht, das Baugerüst hochkletterte. Es waren simple Stufen, ich fand gut Halt am Gerüst, stieg Stockwerk für Stockwerk hoch. Manchmal stockte ich und versuchte, die Umrisse der Räume durch die Fenster zu erkennen. Dann war ich ganz oben. Ich schaute auf grünliches Schwarz, ich sah in die Ferne. Seit ich in der großen Stadt wohnte, merkte ich, wie sehr mir der Blick in die Ferne fehlte. Hier gab es nicht einmal Berge. Deswegen erschien es mir logisch, auf ein Hausdach zu müssen. Ich machte einen großen Schritt, auf einen Dachziegel, dann auf den nächsten, bis ich sicher auf dem Dach stand. Auf Dächern schien ich mich immer gleich zu fühlen. War ich allein auf einem Dach, wünschte ich mir oft jemanden an die Seite. War mit mir jemand auf einem Dach, glaubte ich oft, dass es sich dabei nicht um die richtige Person handeln würde. Und trotzdem waren es Dächer, auf denen ich dem Grübeln keinen Raum gab, auf denen ich selbst zur Ruhe fand.

Wo setzte sich Matth hin, um zur Ruhe zu kommen?

Wenn ich wieder nach Hause ging, stand ich manchmal vor meinem Gebäude, schaute auf die Hausfassade. Alle Nachbarn schliefen, bei mir leuchtete es hell aus dem Fenster. Es tat gut, zu wissen, dass ich nicht in eine dunkle Wohnung ankommen würde. Und zugleich schien es mir als Symbol der Schlaflosigkeit. Überall war es dunkel, bei mir brannte das Licht.

Als ich noch zur Schule ging, hatte ich einen guten Freund, der schon Auto fahren konnte. Wenn ich nachts nicht schlief, schrieb ich ihm manchmal. Ich weiß nicht, ob er sein Handy einfach nicht auf lautlos stellte oder ob er auch wachlag. Manchmal holte er mich mit dem Auto ab. Das Auto, das betonte er oft, sei für ihn ein Stück Freiheit. Damals wohnte ich mit meiner Mutter im Erdgeschoss und kletterte über meinen Schreibtisch aus dem Fenster raus. Ich schlich mich über den Garten auf die Straße, hoffte, dass die Nachbarn mich nicht sehen würden. Obwohl mir Magnus am Tag manchmal überdreht vorkam, verstand er es, in den Nächten mit mir zu schweigen. Wir fuhren durch Dörfer und an Feldern entlang. Manchmal machten wir an einem Baggersee halt und liefen einmal drum herum. Das Wesentliche jedoch war die Musik. Er hatte etliche CDs in seinem Auto und kuratierte unsere nächtlichen Fahrten. Er schien immer eine musikalische Dramaturgie im Kopf zu haben. Und: Er veränderte meinen Musikgeschmack. Bei unserer ersten Fahrt zeigte er mir Post Rock, und ich fragte ihn, neugierig und naiv, wann denn da der Gesang käme. Mich entrückte die Musik aus der Zeit. Wenn wir wieder bei mir ankamen, schlich er sich mit mir durch den Garten. Beim ersten Mal merkte ich, dass ich zu klein und zu schwach war, um allein in das noch geöffnete Fenster zu klettern. Er bot mir eine Räuberleiter an, und ich schämte mich, mit meinen verdreckten Stiefeln auf seine Handinnenflächen zu steigen. Es war sinnlos, mit ihm zu diskutieren, und ich hatte Angst, dass meine Mutter unsere Stimmen hören könnte, also tat ich es, ein Fuß nach dem anderen, während er mich hochhob. Ich winkte ihm auf dem Schreibtisch kniend zum Abschied, bevor ich das Fenster schloss und mich wieder ins Bett legte. Danach konnte ich schlafen.

Alina war schon im Urlaub, als ich sie an meinen Aufruf erinnerte. Sie schaffte es nicht mehr, mir über das Kontaktformular zu schreiben, aber schickte mir eine Sprachnachricht:

Ich glaube, also ganz abgesehen von dieser Geschichte, die wir im Ristorante Leidenschaft gesponnen haben, dass Matth so jemand ist, der wahnsinnig viel reist und der so überhaupt keine Struktur hat. Der halt einfach mal nach Paraguay, dann nach Korea, dann irgendwo nach Bolivien reist und einfach so guckt, was so der nächste Flug ist. Und dann halt einsteigt. Und finanzieren tut er sich das durch alle möglichen Dinge, also er verkauft zum Beispiel solche Schallplatten, er verkauft irgendwie Dinge, die er in seiner alten Wohnung hat, er handelt mit ein paar Leuten, er hat irgendwie in ganz vielen Dingen seine Finger drin, aber man weiß nicht so genau, worin überall. Und er weiß es auch selber nicht. Und er macht seine Mails halt nur so alle sechs Monate mal auf, und das ist gar nicht so, weil er sich denkt, es ist nicht wichtig, sondern er checkt es einfach nicht. Er ist dann irgendwo in Bolivien, liegt in einer baumelnden Hängematte, und da baut er etwas an, und dann lernt er surfen, und dann entdeckt er irgendwie eine neue Philosophierichtung für sich, also er lässt sich halt einfach so treiben. Und dann weiß er auch nicht, wie er das erklären soll. Und dann muss er halt schreiben, er war distracted, weil er auch wirklich nicht genau weiß, was er gemacht hat.

Alina war kürzlich von München nach Hildesheim gezogen, und ich fuhr sonntagmorgens nach Hildesheim, um ihr beim Kistentragen und Schrankaufbauen zu helfen. Abends saßen Alina, ihr Freund und ich im von ihr erwähnten Ristorante Leidenschaft bei ihr um die Ecke. Ich hatte es schon am Morgen wegen des Namens abfotografiert und freute mich, als Alina und Konstantin damit einverstanden waren, dort zu essen. Ich erzählte den beiden von der Postkarte und von Matth, wir tranken Aperol und Wein. Dann wurden wir unterbrochen. Ein musiklautes Cabrio fuhr vorbei. Darin saßen vier Männer, die sich alle zeitgleich nach vier Frauen, die am Straßenrand liefen, umdrehten. Manchmal war Ablenkung doch so leicht.

Am Abend stieg ich angetrunken in den Zug, zuvor machte ich noch ein Foto vom rosa Himmel zwischen den Gleisen. Ich schickte das Bild einem Freund, und er schrieb, dass der Sonnenuntergang auch von Leif Randt hätte ausgedacht sein können.

Dann passierte etwas Kurioses. Matth schrieb mir. Er antwortete auf eine Mail, die ich vor ziemlich genau einem Jahr an Bandcamp geschrieben hatte, nachhakend, wo denn meine Schallplatte bliebe, ich hätte schließlich schon bezahlt, und es handele sich noch zudem um ein Geschenk.

Matth antwortete, 371 Tage später:

Hi Nefeli,
Sorry to be an idiot, but I am just checking if this ever arrived with you? Cheers,
Matthew

Nachdem ich zuvor nur die Postkarte gehabt hatte, bekam ich nun von ihm selbst eine Mailadresse und einen Nachnamen geschenkt. Ich zögerte, bevor ich ihn im Internet suchte. Und als ich auf seinen Instagram-Account stieß, fühlte ich mich nicht gut dabei, die Bilder durchzuscrollen. Obwohl es ein öffentlicher Account war, hatte ich das Gefühl, zu fremd zu sein, um an seinem realen Leben teilzuhaben.

Er war natürlich vollkommen anders, als ich ihn mir ausgemalt hatte.
Aber er hatte ein Faible für Blumen, denen er beim Wachsen zusah, das gefiel mir. Ich antwortete Matth, der nun Matthew geworden war, ein paar Tage später ausführlich. Ich schrieb, dass nicht nur die erste Schallplatte, sondern auch eine zweite mittlerweile bei mir angekommen war. Ich erzählte, dass ich ihn zu einem Projekt gemacht hatte. Ich hätte sogar eine Webseite für ihn gebaut. Ich schrieb:

»You accidentally turned into an art-figure, but maybe you can see it as a compliment? Or a very charming joke? I hope that’s alright with you?«

Danach schaute ich immer wieder in mein Postfach, und natürlich erhielt ich keine Antwort. Wahrscheinlich würde ich ein Jahr warten müssen, bis er erneut aus seiner Ablenkung auftauchte, in die Realität, meine Realität, um mir zu antworten. Und ich freute mich schon darauf, irgendwann von ihm zu lesen.

Bei mir um die Ecke gab es ein kleines italienisches Café, das von einer Familie geführt wurde. Dort arbeitete auch ein Jugendlicher, der häufig schlecht gelaunt wirkte. Jedes Mal, wenn ich mir dort ein Croissant und einen Espresso holte, fragte ich mich, ob es ihn wirklich so quälte, in dem Café zu arbeiten, wie es nach außen schien. Irgendwann lief ich am frühen Abend am Café vorbei und sah, wie er beim Aufräumen nach Ladenschluss durch das Café tanzte. Er hielt einen Aperol Spritz in der einen Hand, in der anderen einen Lappen, mit dem er die Tische abwischte. Er sah, dass ich ihn sah, und kurz fürchtete ich, dass es ihm unangenehm sein könnte und er zu tanzen aufhören würde. Aber er winkte mir freundlich zu, nickte dabei zur Musik. Ich sah ihn dann häufiger nach der Arbeit, er wirkte immer fröhlich. Manchmal holte ihn eine junge Frau, vielleicht seine Freundin, ab. Gemeinsam machten sie noch ein Selfie vor dem Café.

Ich fordere gern mein Glück heraus. In einer weiteren schlaflosen Nacht bestellte ich mir erneut über Bandcamp eine Schallplatte bei Matthew. Ich dachte, es wäre schön, Postkarten von ihm zu sammeln. Ich wäre bereit für eine einseitige Brieffreundschaft, die mich ablenken konnte, vom Nichtschlafenkönnen, von der Steuererklärung, vom Alltag.

Es gab wenige Konstanten, an denen ich mich festklammern konnte. Ich wollte aber gern daran glauben, dass Matthew auf ewig distracted sein würde.

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1Calle, Sophie. Das Adressbuch. Berlin: Suhrkamp Verlag 2019, S. 45.


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Nefeli Kavouras

arbeitet beim mairisch Verlag, organisiert Literaturformate (u.a. hafenlesung) und macht gemeinsam mit dem Autor Anselm Neft den Literaturpodcast laxbrunch. Manchmal ist auch Zeit fürs Schreiben da. Zuletzt etwa in briefe an die täter, erschienen in akzente 3/2019 (Hanser Verlag).



Nefeli Kavouras

arbeitet beim mairisch Verlag, organisiert Literaturformate (u.a. hafenlesung) und macht gemeinsam mit dem Autor Anselm Neft den Literaturpodcast laxbrunch. Manchmal ist auch Zeit fürs Schreiben da. Zuletzt etwa in briefe an die täter, erschienen in akzente 3/2019 (Hanser Verlag).